Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

und den wir, theils weil er nicht Vorstellung,
theils seiner Natur nach uns unbekannt ist, blind
nennen. Der Kranke erscheint uns als toll-
kühn
, weil er kein Bewusstseyn der Gefahren,
also auch keine Furcht vor denselben hat; sein
Trieb zum Handlen als Wuth, weil er zerstört.
Ein Mensch, der vor Zorn schäumt, repräsentirt
im Miniatur das Bild des Rasenden.

Die Raserey charakterisirt sich also durch
abnorme Handlungen. Um nun meinen von
ihr gegebnen, vielleicht unvollständigen Begriff
weiter zu erläutern, muss ich mit ein Paar Wor-
ten der Ursachen *) erwähnen, durch welche die
Handlungen der Organisation entstehn. Einige
derselben, z. B. das Klopfen des Herzens, die
peristaltische Bewegung der Gedärme, die Aus-
und Absonderungen, die Zuckungen und Krämpfe
in dem Muskelsystem, sind zuverlässig physi-
schen
oder rein organischen Ursprungs.
Von diesen kann hier die Rede nicht seyn. An-
dere Handlungen des Menschen entstehn im Ge-
folge des Begehrungsvermögens, durch Vorstel-
lungen eines Objects, die seine Begierden erre-
gen, und ihn bestimmen, das Object wirklich zu
machen. Diese setzen Erkenntnisse voraus, wel-
che sich entweder auf Gefühle der Lust oder der
Unlust, oder auf gewisse unsprünglich-praktische
Gesetze beziehn, die der Form der Vernunft an-
gemessen sind. Diese sind psychischer Natur.

*) s. oben 165 S.

und den wir, theils weil er nicht Vorſtellung,
theils ſeiner Natur nach uns unbekannt iſt, blind
nennen. Der Kranke erſcheint uns als toll-
kühn
, weil er kein Bewuſstſeyn der Gefahren,
alſo auch keine Furcht vor denſelben hat; ſein
Trieb zum Handlen als Wuth, weil er zerſtört.
Ein Menſch, der vor Zorn ſchäumt, repräſentirt
im Miniatur das Bild des Raſenden.

Die Raſerey charakteriſirt ſich alſo durch
abnorme Handlungen. Um nun meinen von
ihr gegebnen, vielleicht unvollſtändigen Begriff
weiter zu erläutern, muſs ich mit ein Paar Wor-
ten der Urſachen *) erwähnen, durch welche die
Handlungen der Organiſation entſtehn. Einige
derſelben, z. B. das Klopfen des Herzens, die
periſtaltiſche Bewegung der Gedärme, die Aus-
und Abſonderungen, die Zuckungen und Krämpfe
in dem Muskelſyſtem, ſind zuverläſſig phyſi-
ſchen
oder rein organiſchen Urſprungs.
Von dieſen kann hier die Rede nicht ſeyn. An-
dere Handlungen des Menſchen entſtehn im Ge-
folge des Begehrungsvermögens, durch Vorſtel-
lungen eines Objects, die ſeine Begierden erre-
gen, und ihn beſtimmen, das Object wirklich zu
machen. Dieſe ſetzen Erkenntniſſe voraus, wel-
che ſich entweder auf Gefühle der Luſt oder der
Unluſt, oder auf gewiſſe unſprünglich-praktiſche
Geſetze beziehn, die der Form der Vernunft an-
gemeſſen ſind. Dieſe ſind pſychiſcher Natur.

*) ſ. oben 165 S.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0370" n="365"/>
und den wir, theils weil er nicht Vor&#x017F;tellung,<lb/>
theils &#x017F;einer Natur nach uns unbekannt i&#x017F;t, blind<lb/>
nennen. Der Kranke er&#x017F;cheint uns als <hi rendition="#g">toll-<lb/>
kühn</hi>, weil er kein Bewu&#x017F;st&#x017F;eyn der Gefahren,<lb/>
al&#x017F;o auch keine Furcht vor den&#x017F;elben hat; &#x017F;ein<lb/>
Trieb zum Handlen als <hi rendition="#g">Wuth</hi>, weil er zer&#x017F;tört.<lb/>
Ein Men&#x017F;ch, der vor Zorn &#x017F;chäumt, reprä&#x017F;entirt<lb/>
im Miniatur das Bild des Ra&#x017F;enden.</p><lb/>
            <p>Die Ra&#x017F;erey charakteri&#x017F;irt &#x017F;ich al&#x017F;o durch<lb/>
abnorme <hi rendition="#g">Handlungen</hi>. Um nun meinen von<lb/>
ihr gegebnen, vielleicht unvoll&#x017F;tändigen Begriff<lb/>
weiter zu erläutern, mu&#x017F;s ich mit ein Paar Wor-<lb/>
ten der Ur&#x017F;achen <note place="foot" n="*)">&#x017F;. oben 165 S.</note> erwähnen, durch welche die<lb/>
Handlungen der Organi&#x017F;ation ent&#x017F;tehn. Einige<lb/>
der&#x017F;elben, z. B. das Klopfen des Herzens, die<lb/>
peri&#x017F;talti&#x017F;che Bewegung der Gedärme, die Aus-<lb/>
und Ab&#x017F;onderungen, die Zuckungen und Krämpfe<lb/>
in dem Muskel&#x017F;y&#x017F;tem, &#x017F;ind zuverlä&#x017F;&#x017F;ig <hi rendition="#g">phy&#x017F;i-<lb/>
&#x017F;chen</hi> oder <hi rendition="#g">rein organi&#x017F;chen</hi> Ur&#x017F;prungs.<lb/>
Von die&#x017F;en kann hier die Rede nicht &#x017F;eyn. An-<lb/>
dere Handlungen des Men&#x017F;chen ent&#x017F;tehn im Ge-<lb/>
folge des Begehrungsvermögens, durch Vor&#x017F;tel-<lb/>
lungen eines Objects, die &#x017F;eine Begierden erre-<lb/>
gen, und ihn be&#x017F;timmen, das Object wirklich zu<lb/>
machen. Die&#x017F;e &#x017F;etzen Erkenntni&#x017F;&#x017F;e voraus, wel-<lb/>
che &#x017F;ich entweder auf Gefühle der Lu&#x017F;t oder der<lb/>
Unlu&#x017F;t, oder auf gewi&#x017F;&#x017F;e un&#x017F;prünglich-prakti&#x017F;che<lb/>
Ge&#x017F;etze beziehn, die der Form der Vernunft an-<lb/>
geme&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ind. Die&#x017F;e &#x017F;ind <hi rendition="#g">p&#x017F;ychi&#x017F;cher</hi> Natur.<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[365/0370] und den wir, theils weil er nicht Vorſtellung, theils ſeiner Natur nach uns unbekannt iſt, blind nennen. Der Kranke erſcheint uns als toll- kühn, weil er kein Bewuſstſeyn der Gefahren, alſo auch keine Furcht vor denſelben hat; ſein Trieb zum Handlen als Wuth, weil er zerſtört. Ein Menſch, der vor Zorn ſchäumt, repräſentirt im Miniatur das Bild des Raſenden. Die Raſerey charakteriſirt ſich alſo durch abnorme Handlungen. Um nun meinen von ihr gegebnen, vielleicht unvollſtändigen Begriff weiter zu erläutern, muſs ich mit ein Paar Wor- ten der Urſachen *) erwähnen, durch welche die Handlungen der Organiſation entſtehn. Einige derſelben, z. B. das Klopfen des Herzens, die periſtaltiſche Bewegung der Gedärme, die Aus- und Abſonderungen, die Zuckungen und Krämpfe in dem Muskelſyſtem, ſind zuverläſſig phyſi- ſchen oder rein organiſchen Urſprungs. Von dieſen kann hier die Rede nicht ſeyn. An- dere Handlungen des Menſchen entſtehn im Ge- folge des Begehrungsvermögens, durch Vorſtel- lungen eines Objects, die ſeine Begierden erre- gen, und ihn beſtimmen, das Object wirklich zu machen. Dieſe ſetzen Erkenntniſſe voraus, wel- che ſich entweder auf Gefühle der Luſt oder der Unluſt, oder auf gewiſſe unſprünglich-praktiſche Geſetze beziehn, die der Form der Vernunft an- gemeſſen ſind. Dieſe ſind pſychiſcher Natur. *) ſ. oben 165 S.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/370
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/370>, abgerufen am 24.04.2024.