Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

der Clarissa.
von. Du hast noch einige Zeit/ weil er
zum Abend-Essen bleiben wird. Jch will
zu dir nicht wieder kommen.
Mit diesen
Worten ging sie weg.

Was konnte ich anders thun, als weinen?
Wegen meiner Mutter bin ich am meisten beküm-
mert; mehr als um mein selbst willen. Sie ver-
dient, wenn ich alles überlege, noch mehr Mit-
leiden als ich, insonderheit deswegen, weil sie ge-
gen ihre eigene Einsicht handeln muß. Sie ist
ein unvergleichliches Frauenzimmer! und es ist
betrübt, daß ihre Sanfftmuth und Herablassung
nicht durch die natürlichen Folgen dieser liebens-
würdigen Eigenschafften belohnt wird. Allein
es würde nie so weit gekommen seyn, wenn sie sich
früh in Acht genommen hätte, daß hefftige Ge-
müther nicht hätten mercken können, was sie für
Gewalt über sie haben.

Meine Feder verführt mich zum schreiben: und
ich vergesse unterdessen, daß meine Mutter auf
mich warten kan, und vielleicht wegen ihrer ei-
genen Umstände auf mich ungehalten ist. Sie
hat mir zu verstehen gegeben, ich müste zu ihr
kommen, wenn ich meine Entschliessung änderte:
das ist in der That so viel als ein Verbot, bey
der Gesinnung die ich jetzt habe, zu ihr zu kom-
men. Allein sie ist im Unwillen von mir gegan-
gen: und so hat es ein trotziges Ansehen, und läst
bey nahe als wenn ich mich ihrer Vorsprache und
Vermittelung begeben wollte, wenn ich nicht zu
ihr gehe, und sie ersuche, Mitleiden mit mir zu

ha-
P 5

der Clariſſa.
von. Du haſt noch einige Zeit/ weil er
zum Abend-Eſſen bleiben wird. Jch will
zu dir nicht wieder kommen.
Mit dieſen
Worten ging ſie weg.

Was konnte ich anders thun, als weinen?
Wegen meiner Mutter bin ich am meiſten bekuͤm-
mert; mehr als um mein ſelbſt willen. Sie ver-
dient, wenn ich alles uͤberlege, noch mehr Mit-
leiden als ich, inſonderheit deswegen, weil ſie ge-
gen ihre eigene Einſicht handeln muß. Sie iſt
ein unvergleichliches Frauenzimmer! und es iſt
betruͤbt, daß ihre Sanfftmuth und Herablaſſung
nicht durch die natuͤrlichen Folgen dieſer liebens-
wuͤrdigen Eigenſchafften belohnt wird. Allein
es wuͤrde nie ſo weit gekommen ſeyn, wenn ſie ſich
fruͤh in Acht genommen haͤtte, daß hefftige Ge-
muͤther nicht haͤtten mercken koͤnnen, was ſie fuͤr
Gewalt uͤber ſie haben.

Meine Feder verfuͤhrt mich zum ſchreiben: und
ich vergeſſe unterdeſſen, daß meine Mutter auf
mich warten kan, und vielleicht wegen ihrer ei-
genen Umſtaͤnde auf mich ungehalten iſt. Sie
hat mir zu verſtehen gegeben, ich muͤſte zu ihr
kommen, wenn ich meine Entſchlieſſung aͤnderte:
das iſt in der That ſo viel als ein Verbot, bey
der Geſinnung die ich jetzt habe, zu ihr zu kom-
men. Allein ſie iſt im Unwillen von mir gegan-
gen: und ſo hat es ein trotziges Anſehen, und laͤſt
bey nahe als wenn ich mich ihrer Vorſprache und
Vermittelung begeben wollte, wenn ich nicht zu
ihr gehe, und ſie erſuche, Mitleiden mit mir zu

ha-
P 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0253" n="233"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">der Clari&#x017F;&#x017F;a.</hi></hi></fw><lb/><hi rendition="#fr">von. Du ha&#x017F;t noch einige Zeit/ weil er<lb/>
zum Abend-E&#x017F;&#x017F;en bleiben wird. Jch will<lb/>
zu dir nicht wieder kommen.</hi> Mit die&#x017F;en<lb/>
Worten ging &#x017F;ie weg.</p><lb/>
        <p>Was konnte ich anders thun, als weinen?<lb/>
Wegen meiner Mutter bin ich am mei&#x017F;ten beku&#x0364;m-<lb/>
mert; mehr als um mein &#x017F;elb&#x017F;t willen. Sie ver-<lb/>
dient, wenn ich alles u&#x0364;berlege, noch mehr Mit-<lb/>
leiden als ich, in&#x017F;onderheit deswegen, weil &#x017F;ie ge-<lb/>
gen ihre eigene Ein&#x017F;icht handeln muß. Sie i&#x017F;t<lb/>
ein unvergleichliches Frauenzimmer! und es i&#x017F;t<lb/>
betru&#x0364;bt, daß ihre Sanfftmuth und Herabla&#x017F;&#x017F;ung<lb/>
nicht durch die natu&#x0364;rlichen Folgen die&#x017F;er liebens-<lb/>
wu&#x0364;rdigen Eigen&#x017F;chafften belohnt wird. Allein<lb/>
es wu&#x0364;rde nie &#x017F;o weit gekommen &#x017F;eyn, wenn &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
fru&#x0364;h in Acht genommen ha&#x0364;tte, daß hefftige Ge-<lb/>
mu&#x0364;ther nicht ha&#x0364;tten mercken ko&#x0364;nnen, was &#x017F;ie fu&#x0364;r<lb/>
Gewalt u&#x0364;ber &#x017F;ie haben.</p><lb/>
        <p>Meine Feder verfu&#x0364;hrt mich zum &#x017F;chreiben: und<lb/>
ich verge&#x017F;&#x017F;e unterde&#x017F;&#x017F;en, daß meine Mutter auf<lb/>
mich warten kan, und vielleicht wegen ihrer ei-<lb/>
genen Um&#x017F;ta&#x0364;nde auf mich ungehalten i&#x017F;t. Sie<lb/>
hat mir zu ver&#x017F;tehen gegeben, ich mu&#x0364;&#x017F;te zu ihr<lb/>
kommen, wenn ich meine Ent&#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;ung a&#x0364;nderte:<lb/>
das i&#x017F;t in der That &#x017F;o viel als ein Verbot, bey<lb/>
der Ge&#x017F;innung die ich jetzt habe, zu ihr zu kom-<lb/>
men. Allein &#x017F;ie i&#x017F;t im Unwillen von mir gegan-<lb/>
gen: und &#x017F;o hat es ein trotziges An&#x017F;ehen, und la&#x0364;&#x017F;t<lb/>
bey nahe als wenn ich mich ihrer Vor&#x017F;prache und<lb/>
Vermittelung begeben wollte, wenn ich nicht zu<lb/>
ihr gehe, und &#x017F;ie er&#x017F;uche, Mitleiden mit mir zu<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">P 5</fw><fw place="bottom" type="catch">ha-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[233/0253] der Clariſſa. von. Du haſt noch einige Zeit/ weil er zum Abend-Eſſen bleiben wird. Jch will zu dir nicht wieder kommen. Mit dieſen Worten ging ſie weg. Was konnte ich anders thun, als weinen? Wegen meiner Mutter bin ich am meiſten bekuͤm- mert; mehr als um mein ſelbſt willen. Sie ver- dient, wenn ich alles uͤberlege, noch mehr Mit- leiden als ich, inſonderheit deswegen, weil ſie ge- gen ihre eigene Einſicht handeln muß. Sie iſt ein unvergleichliches Frauenzimmer! und es iſt betruͤbt, daß ihre Sanfftmuth und Herablaſſung nicht durch die natuͤrlichen Folgen dieſer liebens- wuͤrdigen Eigenſchafften belohnt wird. Allein es wuͤrde nie ſo weit gekommen ſeyn, wenn ſie ſich fruͤh in Acht genommen haͤtte, daß hefftige Ge- muͤther nicht haͤtten mercken koͤnnen, was ſie fuͤr Gewalt uͤber ſie haben. Meine Feder verfuͤhrt mich zum ſchreiben: und ich vergeſſe unterdeſſen, daß meine Mutter auf mich warten kan, und vielleicht wegen ihrer ei- genen Umſtaͤnde auf mich ungehalten iſt. Sie hat mir zu verſtehen gegeben, ich muͤſte zu ihr kommen, wenn ich meine Entſchlieſſung aͤnderte: das iſt in der That ſo viel als ein Verbot, bey der Geſinnung die ich jetzt habe, zu ihr zu kom- men. Allein ſie iſt im Unwillen von mir gegan- gen: und ſo hat es ein trotziges Anſehen, und laͤſt bey nahe als wenn ich mich ihrer Vorſprache und Vermittelung begeben wollte, wenn ich nicht zu ihr gehe, und ſie erſuche, Mitleiden mit mir zu ha- P 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/253
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/253>, abgerufen am 18.04.2024.