Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Geschichte
sahe, so war es, als wenn an ihren Augenliedern
ein Gewicht hinge, und sie sahe mich nie an.
Mein Vater saß halb zur Seite in seinem Lehn-
Stuhl, damit er mich nicht ansesehen dürfte, und
hob die gefaltnen Hände bald auf, bald nieder. Al-
le Finger des armen Mannes waren in Bewe-
gung, als wenn es ihm bis unter die Nägel krib-
belte. Meiner Schwester schwollen alle Adern
auf; mein Bruder sahe mich mit einer verächtli-
chen Mine an, und maß mich mit seinen Augen
von Haupt bis auf die Füsse so bald ich in den
Saal trat. Meine Baase war auch da; mich
dünckte, ich konte in ihren Augen eine Gütigkeit
lesen, die sie gerne verstecken wollte. Sie blieb
sitzen, und neigete sich gantz kaltsinnig gegen mich.
Darauf wieß sie mit den Augen auf meinen Bru-
der, und auf meine Schwester. Dis erklärte ich
so, als wollte sie mir die Ursach ihres ungewöhn-
lichen Betragens zu verstehen geben. Bewahre
GOtt! mein Schatz, warum suchten sie ein
Hertz, das bisher nie für eigensinnig oder knech-
tisch gehalten ist, mehr durch Furcht als durch
Liebe zu bewegen?

Jch setzte mich auf meinen Stuhl nieder. Soll
ich Thee-Wasser aufgiessen, sagte ich zu meiner
Mutter? Sie wissen, dies ist sonst mein Amt.

Nein! hieß es. Eine kurtze Antwort, in Ei-
ner Sylbe. Sie nahm die Thee-Kanne selbst;
Meine Schwester wollte ihr helffen, aber mein
Bruder hieß sie gehen, und sagte, daß er das
Wasser selbst aufgiessen wollte. Das Hertz kam

mir

Die Geſchichte
ſahe, ſo war es, als wenn an ihren Augenliedern
ein Gewicht hinge, und ſie ſahe mich nie an.
Mein Vater ſaß halb zur Seite in ſeinem Lehn-
Stuhl, damit er mich nicht anſeſehen duͤrfte, und
hob die gefaltnen Haͤnde bald auf, bald nieder. Al-
le Finger des armen Mannes waren in Bewe-
gung, als wenn es ihm bis unter die Naͤgel krib-
belte. Meiner Schweſter ſchwollen alle Adern
auf; mein Bruder ſahe mich mit einer veraͤchtli-
chen Mine an, und maß mich mit ſeinen Augen
von Haupt bis auf die Fuͤſſe ſo bald ich in den
Saal trat. Meine Baaſe war auch da; mich
duͤnckte, ich konte in ihren Augen eine Guͤtigkeit
leſen, die ſie gerne verſtecken wollte. Sie blieb
ſitzen, und neigete ſich gantz kaltſinnig gegen mich.
Darauf wieß ſie mit den Augen auf meinen Bru-
der, und auf meine Schweſter. Dis erklaͤrte ich
ſo, als wollte ſie mir die Urſach ihres ungewoͤhn-
lichen Betragens zu verſtehen geben. Bewahre
GOtt! mein Schatz, warum ſuchten ſie ein
Hertz, das bisher nie fuͤr eigenſinnig oder knech-
tiſch gehalten iſt, mehr durch Furcht als durch
Liebe zu bewegen?

Jch ſetzte mich auf meinen Stuhl nieder. Soll
ich Thee-Waſſer aufgieſſen, ſagte ich zu meiner
Mutter? Sie wiſſen, dies iſt ſonſt mein Amt.

Nein! hieß es. Eine kurtze Antwort, in Ei-
ner Sylbe. Sie nahm die Thee-Kanne ſelbſt;
Meine Schweſter wollte ihr helffen, aber mein
Bruder hieß ſie gehen, und ſagte, daß er das
Waſſer ſelbſt aufgieſſen wollte. Das Hertz kam

mir
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0098" n="78"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Die Ge&#x017F;chichte</hi></hi></fw><lb/>
&#x017F;ahe, &#x017F;o war es, als wenn an ihren <choice><sic>Augenliebern</sic><corr>Augenliedern</corr></choice><lb/>
ein Gewicht hinge, und &#x017F;ie &#x017F;ahe mich nie an.<lb/>
Mein Vater &#x017F;aß halb zur Seite in &#x017F;einem Lehn-<lb/>
Stuhl, damit er mich nicht an&#x017F;e&#x017F;ehen du&#x0364;rfte, und<lb/>
hob die gefaltnen Ha&#x0364;nde bald auf, bald nieder. Al-<lb/>
le Finger des armen Mannes waren in Bewe-<lb/>
gung, als wenn es ihm bis unter die Na&#x0364;gel krib-<lb/>
belte. Meiner Schwe&#x017F;ter &#x017F;chwollen alle Adern<lb/>
auf; mein Bruder &#x017F;ahe mich mit einer vera&#x0364;chtli-<lb/>
chen Mine an, und maß mich mit &#x017F;einen Augen<lb/>
von Haupt bis auf die Fu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e &#x017F;o bald ich in den<lb/>
Saal trat. Meine Baa&#x017F;e war auch da; mich<lb/>
du&#x0364;nckte, ich konte in ihren Augen eine Gu&#x0364;tigkeit<lb/>
le&#x017F;en, die &#x017F;ie gerne ver&#x017F;tecken wollte. Sie blieb<lb/>
&#x017F;itzen, und neigete &#x017F;ich gantz kalt&#x017F;innig gegen mich.<lb/>
Darauf wieß &#x017F;ie mit den Augen auf meinen Bru-<lb/>
der, und auf meine Schwe&#x017F;ter. Dis erkla&#x0364;rte ich<lb/>
&#x017F;o, als wollte &#x017F;ie mir die Ur&#x017F;ach ihres ungewo&#x0364;hn-<lb/>
lichen Betragens zu ver&#x017F;tehen geben. Bewahre<lb/>
GOtt! mein Schatz, warum &#x017F;uchten &#x017F;ie ein<lb/>
Hertz, das bisher nie fu&#x0364;r eigen&#x017F;innig oder knech-<lb/>
ti&#x017F;ch gehalten i&#x017F;t, mehr durch Furcht als durch<lb/>
Liebe zu bewegen?</p><lb/>
        <p>Jch &#x017F;etzte mich auf meinen Stuhl nieder. Soll<lb/>
ich Thee-Wa&#x017F;&#x017F;er aufgie&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;agte ich zu meiner<lb/>
Mutter? Sie wi&#x017F;&#x017F;en, dies i&#x017F;t &#x017F;on&#x017F;t mein Amt.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#fr">Nein!</hi> hieß es. Eine kurtze Antwort, in Ei-<lb/>
ner Sylbe. Sie nahm die Thee-Kanne &#x017F;elb&#x017F;t;<lb/>
Meine Schwe&#x017F;ter wollte ihr helffen, aber mein<lb/>
Bruder hieß &#x017F;ie gehen, und &#x017F;agte, daß er das<lb/>
Wa&#x017F;&#x017F;er &#x017F;elb&#x017F;t aufgie&#x017F;&#x017F;en wollte. Das Hertz kam<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mir</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[78/0098] Die Geſchichte ſahe, ſo war es, als wenn an ihren Augenliedern ein Gewicht hinge, und ſie ſahe mich nie an. Mein Vater ſaß halb zur Seite in ſeinem Lehn- Stuhl, damit er mich nicht anſeſehen duͤrfte, und hob die gefaltnen Haͤnde bald auf, bald nieder. Al- le Finger des armen Mannes waren in Bewe- gung, als wenn es ihm bis unter die Naͤgel krib- belte. Meiner Schweſter ſchwollen alle Adern auf; mein Bruder ſahe mich mit einer veraͤchtli- chen Mine an, und maß mich mit ſeinen Augen von Haupt bis auf die Fuͤſſe ſo bald ich in den Saal trat. Meine Baaſe war auch da; mich duͤnckte, ich konte in ihren Augen eine Guͤtigkeit leſen, die ſie gerne verſtecken wollte. Sie blieb ſitzen, und neigete ſich gantz kaltſinnig gegen mich. Darauf wieß ſie mit den Augen auf meinen Bru- der, und auf meine Schweſter. Dis erklaͤrte ich ſo, als wollte ſie mir die Urſach ihres ungewoͤhn- lichen Betragens zu verſtehen geben. Bewahre GOtt! mein Schatz, warum ſuchten ſie ein Hertz, das bisher nie fuͤr eigenſinnig oder knech- tiſch gehalten iſt, mehr durch Furcht als durch Liebe zu bewegen? Jch ſetzte mich auf meinen Stuhl nieder. Soll ich Thee-Waſſer aufgieſſen, ſagte ich zu meiner Mutter? Sie wiſſen, dies iſt ſonſt mein Amt. Nein! hieß es. Eine kurtze Antwort, in Ei- ner Sylbe. Sie nahm die Thee-Kanne ſelbſt; Meine Schweſter wollte ihr helffen, aber mein Bruder hieß ſie gehen, und ſagte, daß er das Waſſer ſelbſt aufgieſſen wollte. Das Hertz kam mir

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/98
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/98>, abgerufen am 23.04.2024.