Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite
der Clarissa.

Meine Mutter war mit dem gantzen Brief
sehr wohl zu frieden, und sagte, der Brief hät-
te verdient, das auszurichten, was er wircklich
ausgerichtet hat. Sie fragte mich aber dabey:
was man zur Entschuldigung eines jungen
Frauenzimmers vorbringen könnte, das so un-
vergleichliche Gedancken hätte, und in so jungen
Jahren Brieffe schrieb, die sich für das reiffe-
ste Alter vollkommen schickten; wenn es sich
dennoch übereilen und sein eigenes Unglück wäh-
len sollte?

Sie
"gnügens das sie suchen geschmecket haben sollten:
"wenn wir verlangen, daß unser Rath bey ihnen
"so viel gelten soll, als die Erfahrung bey uns,
"und daß sie uns mehr folgen sollen, als wir viel-
"leicht unsern Eltern mögen gefolget haben: so
"ist es billig, daß wir Gelindigkeit und Geduld ge-
"brauchen, sonst werden wir sie eher verhärten
"als überzeugen. Denn, gnädige Frau, die zärt-
"lichsten und artigsten Gemüther werden desto
"unbeugsamer, wenn man hart mit ihnen umge-
"het. Wenn die Fräulein weiß, daß sie es gut
"meinet, so wird sie nicht leicht nachgeben, ob gleich
"aus Mangel der Jahre und Erfahrung ein würck-
"licher Jrrthum in ihrem Verstande ist. So bald
"sie glaubt, daß ihre Freunde unrecht haben, wenn
"sie auch gleich in der Sache selbst Recht hätten,
"und nur zu hart mit ihr verführen: so wird ein
"jeder harter Schritt, den die Eltern vornehmen,
"und eine jede Unvorsichtigkeit und Jrrung der
"Tochter die Trennung zwischen Eltern und Kind
"grösser machen. Je mehr die Eltern Borurthei-
"le gegen die Person haben, desto mehr Vollkom-
"menhei-
der Clariſſa.

Meine Mutter war mit dem gantzen Brief
ſehr wohl zu frieden, und ſagte, der Brief haͤt-
te verdient, das auszurichten, was er wircklich
ausgerichtet hat. Sie fragte mich aber dabey:
was man zur Entſchuldigung eines jungen
Frauenzimmers vorbringen koͤnnte, das ſo un-
vergleichliche Gedancken haͤtte, und in ſo jungen
Jahren Brieffe ſchrieb, die ſich fuͤr das reiffe-
ſte Alter vollkommen ſchickten; wenn es ſich
dennoch uͤbereilen und ſein eigenes Ungluͤck waͤh-
len ſollte?

Sie
„gnuͤgens das ſie ſuchen geſchmecket haben ſollten:
„wenn wir verlangen, daß unſer Rath bey ihnen
„ſo viel gelten ſoll, als die Erfahrung bey uns,
„und daß ſie uns mehr folgen ſollen, als wir viel-
„leicht unſern Eltern moͤgen gefolget haben: ſo
„iſt es billig, daß wir Gelindigkeit und Geduld ge-
„brauchen, ſonſt werden wir ſie eher verhaͤrten
„als uͤberzeugen. Denn, gnaͤdige Frau, die zaͤrt-
„lichſten und artigſten Gemuͤther werden deſto
„unbeugſamer, wenn man hart mit ihnen umge-
„het. Wenn die Fraͤulein weiß, daß ſie es gut
„meinet, ſo wird ſie nicht leicht nachgeben, ob gleich
„aus Mangel der Jahre und Erfahrung ein wuͤrck-
„licher Jrrthum in ihrem Verſtande iſt. So bald
„ſie glaubt, daß ihre Freunde unrecht haben, wenn
„ſie auch gleich in der Sache ſelbſt Recht haͤtten,
„und nur zu hart mit ihr verfuͤhren: ſo wird ein
„jeder harter Schritt, den die Eltern vornehmen,
„und eine jede Unvorſichtigkeit und Jrrung der
„Tochter die Trennung zwiſchen Eltern und Kind
„groͤſſer machen. Je mehr die Eltern Borurthei-
„le gegen die Perſon haben, deſto mehr Vollkom-
„menhei-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0129" n="123"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">der Clari&#x017F;&#x017F;a</hi>.</hi> </fw><lb/>
          <p>Meine Mutter war mit dem gantzen Brief<lb/>
&#x017F;ehr wohl zu frieden, und &#x017F;agte, der Brief ha&#x0364;t-<lb/>
te verdient, das auszurichten, was er wircklich<lb/>
ausgerichtet hat. Sie fragte mich aber dabey:<lb/>
was man zur Ent&#x017F;chuldigung eines jungen<lb/>
Frauenzimmers vorbringen ko&#x0364;nnte, das &#x017F;o un-<lb/>
vergleichliche Gedancken ha&#x0364;tte, und in &#x017F;o jungen<lb/>
Jahren Brieffe &#x017F;chrieb, die &#x017F;ich fu&#x0364;r das reiffe-<lb/>
&#x017F;te Alter vollkommen &#x017F;chickten; wenn es &#x017F;ich<lb/>
dennoch u&#x0364;bereilen und &#x017F;ein eigenes Unglu&#x0364;ck wa&#x0364;h-<lb/>
len &#x017F;ollte?</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Sie</fw><lb/>
          <p>
            <note next="#seg2pn_1_3" xml:id="seg2pn_1_2" prev="#seg2pn_1_1" place="foot" n="*">&#x201E;gnu&#x0364;gens das &#x017F;ie &#x017F;uchen ge&#x017F;chmecket haben &#x017F;ollten:<lb/>
&#x201E;wenn wir verlangen, daß un&#x017F;er Rath bey ihnen<lb/>
&#x201E;&#x017F;o viel gelten &#x017F;oll, als die Erfahrung bey uns,<lb/>
&#x201E;und daß &#x017F;ie uns mehr folgen &#x017F;ollen, als wir viel-<lb/>
&#x201E;leicht un&#x017F;ern Eltern mo&#x0364;gen gefolget haben: &#x017F;o<lb/>
&#x201E;i&#x017F;t es billig, daß wir Gelindigkeit und Geduld ge-<lb/>
&#x201E;brauchen, &#x017F;on&#x017F;t werden wir &#x017F;ie eher verha&#x0364;rten<lb/>
&#x201E;als u&#x0364;berzeugen. Denn, gna&#x0364;dige Frau, die za&#x0364;rt-<lb/>
&#x201E;lich&#x017F;ten und artig&#x017F;ten Gemu&#x0364;ther werden de&#x017F;to<lb/>
&#x201E;unbeug&#x017F;amer, wenn man hart mit ihnen umge-<lb/>
&#x201E;het. Wenn die Fra&#x0364;ulein weiß, daß &#x017F;ie es gut<lb/>
&#x201E;meinet, &#x017F;o wird &#x017F;ie nicht leicht nachgeben, ob gleich<lb/>
&#x201E;aus Mangel der Jahre und Erfahrung ein wu&#x0364;rck-<lb/>
&#x201E;licher Jrrthum in ihrem Ver&#x017F;tande i&#x017F;t. So bald<lb/>
&#x201E;&#x017F;ie glaubt, daß ihre Freunde unrecht haben, wenn<lb/>
&#x201E;&#x017F;ie auch gleich in der Sache &#x017F;elb&#x017F;t Recht ha&#x0364;tten,<lb/>
&#x201E;und nur zu hart mit ihr verfu&#x0364;hren: &#x017F;o wird ein<lb/>
&#x201E;jeder harter Schritt, den die Eltern vornehmen,<lb/>
&#x201E;und eine jede Unvor&#x017F;ichtigkeit und Jrrung der<lb/>
&#x201E;Tochter die Trennung zwi&#x017F;chen Eltern und Kind<lb/>
&#x201E;gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;er machen. Je mehr die Eltern Borurthei-<lb/>
&#x201E;le gegen die Per&#x017F;on haben, de&#x017F;to mehr Vollkom-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;menhei-</fw></note>
          </p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[123/0129] der Clariſſa. Meine Mutter war mit dem gantzen Brief ſehr wohl zu frieden, und ſagte, der Brief haͤt- te verdient, das auszurichten, was er wircklich ausgerichtet hat. Sie fragte mich aber dabey: was man zur Entſchuldigung eines jungen Frauenzimmers vorbringen koͤnnte, das ſo un- vergleichliche Gedancken haͤtte, und in ſo jungen Jahren Brieffe ſchrieb, die ſich fuͤr das reiffe- ſte Alter vollkommen ſchickten; wenn es ſich dennoch uͤbereilen und ſein eigenes Ungluͤck waͤh- len ſollte? Sie * * „gnuͤgens das ſie ſuchen geſchmecket haben ſollten: „wenn wir verlangen, daß unſer Rath bey ihnen „ſo viel gelten ſoll, als die Erfahrung bey uns, „und daß ſie uns mehr folgen ſollen, als wir viel- „leicht unſern Eltern moͤgen gefolget haben: ſo „iſt es billig, daß wir Gelindigkeit und Geduld ge- „brauchen, ſonſt werden wir ſie eher verhaͤrten „als uͤberzeugen. Denn, gnaͤdige Frau, die zaͤrt- „lichſten und artigſten Gemuͤther werden deſto „unbeugſamer, wenn man hart mit ihnen umge- „het. Wenn die Fraͤulein weiß, daß ſie es gut „meinet, ſo wird ſie nicht leicht nachgeben, ob gleich „aus Mangel der Jahre und Erfahrung ein wuͤrck- „licher Jrrthum in ihrem Verſtande iſt. So bald „ſie glaubt, daß ihre Freunde unrecht haben, wenn „ſie auch gleich in der Sache ſelbſt Recht haͤtten, „und nur zu hart mit ihr verfuͤhren: ſo wird ein „jeder harter Schritt, den die Eltern vornehmen, „und eine jede Unvorſichtigkeit und Jrrung der „Tochter die Trennung zwiſchen Eltern und Kind „groͤſſer machen. Je mehr die Eltern Borurthei- „le gegen die Perſon haben, deſto mehr Vollkom- „menhei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/129
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/129>, abgerufen am 21.05.2024.