Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749.

Bild:
<< vorherige Seite


Meine Mutter plaget mich. Doch ich lese mei-
nen Brief über, ich habe das schon einmahl ge-
schrieben: allein sie hat mich gantz aus meiner Fas-
sung gebracht, wie Sie es nennen. Sie hat in
der That den Herrn Hickmann in die Catechis-
mus-Lehre kriegen wollen: er sollte antworten, ob
er um unsern Briefwechsel etwas wüßte. Die Fra-
gen waren sehr scharf. Jch glaube, daß ich ein
erbärmliches Mitleiden mit dem erbärmlichen Men-
schen haben muß: denn ich kann nicht leiden, daß
sich ein anderer als ich, das Recht heraus nimmt, ihn
für einen Narren zu halten.

Es schien, daß die gute Frau sich selbst vergaß. Sie
redete sehr laut: vielleicht dachte sie, daß mein Vater
wieder aufgelebet wäre. Herrn Hickmanns Sanft-
muth hätte sie wohl von dem Gegentheil überzeugen
können: denn mein Vater würde eben so laut gere-
det haben. Wenn ich noch daran gedencke, wie
die Leute ein paar Ellen von einander stunden, und
einander so zubölckten und schrien, als wenn sie sich
eine halbe viertel Stunde weit vom Wege verirret
hätten, und sich wieder zurecht helfen wollten.

Mein Verweiß ist mir schon zum voraus gewiß.
Allein ich habe Jhnen schon geschrieben, daß mich
meine Mutter geplagt hat. Wenn ich nicht ein
wenig böse wäre, so würde niemand glauben, daß
ich meiner Eltern Tochter bin. Sie müssen mich
nicht gar zu hart ausschelten, denn so viel habe ich
von Jhnen gelernet, daß ich meinen Fehler nie ent-
schuldige. Jch habe gesündiget! Das ist genug.
Wenn Sie es nicht vor genug halten, so sind Sie

nicht
D d 2


Meine Mutter plaget mich. Doch ich leſe mei-
nen Brief uͤber, ich habe das ſchon einmahl ge-
ſchrieben: allein ſie hat mich gantz aus meiner Faſ-
ſung gebracht, wie Sie es nennen. Sie hat in
der That den Herrn Hickmann in die Catechiſ-
mus-Lehre kriegen wollen: er ſollte antworten, ob
er um unſern Briefwechſel etwas wuͤßte. Die Fra-
gen waren ſehr ſcharf. Jch glaube, daß ich ein
erbaͤrmliches Mitleiden mit dem erbaͤrmlichen Men-
ſchen haben muß: denn ich kann nicht leiden, daß
ſich ein anderer als ich, das Recht heraus nimmt, ihn
fuͤr einen Narren zu halten.

Es ſchien, daß die gute Frau ſich ſelbſt vergaß. Sie
redete ſehr laut: vielleicht dachte ſie, daß mein Vater
wieder aufgelebet waͤre. Herrn Hickmanns Sanft-
muth haͤtte ſie wohl von dem Gegentheil uͤberzeugen
koͤnnen: denn mein Vater wuͤrde eben ſo laut gere-
det haben. Wenn ich noch daran gedencke, wie
die Leute ein paar Ellen von einander ſtunden, und
einander ſo zuboͤlckten und ſchrien, als wenn ſie ſich
eine halbe viertel Stunde weit vom Wege verirret
haͤtten, und ſich wieder zurecht helfen wollten.

Mein Verweiß iſt mir ſchon zum voraus gewiß.
Allein ich habe Jhnen ſchon geſchrieben, daß mich
meine Mutter geplagt hat. Wenn ich nicht ein
wenig boͤſe waͤre, ſo wuͤrde niemand glauben, daß
ich meiner Eltern Tochter bin. Sie muͤſſen mich
nicht gar zu hart ausſchelten, denn ſo viel habe ich
von Jhnen gelernet, daß ich meinen Fehler nie ent-
ſchuldige. Jch habe geſuͤndiget! Das iſt genug.
Wenn Sie es nicht vor genug halten, ſo ſind Sie

nicht
D d 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0433" n="419"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Meine Mutter plaget mich. Doch ich le&#x017F;e mei-<lb/>
nen Brief u&#x0364;ber, ich habe das &#x017F;chon einmahl ge-<lb/>
&#x017F;chrieben: allein &#x017F;ie hat mich gantz aus meiner Fa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ung gebracht, wie Sie es nennen. Sie hat in<lb/>
der That den Herrn <hi rendition="#fr">Hickmann</hi> in die Catechi&#x017F;-<lb/>
mus-Lehre kriegen wollen: er &#x017F;ollte antworten, ob<lb/>
er um un&#x017F;ern Briefwech&#x017F;el etwas wu&#x0364;ßte. Die Fra-<lb/>
gen waren &#x017F;ehr &#x017F;charf. Jch glaube, daß ich ein<lb/>
erba&#x0364;rmliches Mitleiden mit dem erba&#x0364;rmlichen Men-<lb/>
&#x017F;chen haben muß: denn ich kann nicht leiden, daß<lb/>
&#x017F;ich ein anderer als ich, das Recht heraus nimmt, ihn<lb/>
fu&#x0364;r einen Narren zu halten.</p><lb/>
          <p>Es &#x017F;chien, daß die gute Frau &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t vergaß. Sie<lb/>
redete &#x017F;ehr laut: vielleicht dachte &#x017F;ie, daß mein Vater<lb/>
wieder aufgelebet wa&#x0364;re. Herrn <hi rendition="#fr">Hickmanns</hi> Sanft-<lb/>
muth ha&#x0364;tte &#x017F;ie wohl von dem Gegentheil u&#x0364;berzeugen<lb/>
ko&#x0364;nnen: denn mein Vater wu&#x0364;rde eben &#x017F;o laut gere-<lb/>
det haben. Wenn ich noch daran gedencke, wie<lb/>
die Leute ein paar Ellen von einander &#x017F;tunden, und<lb/>
einander &#x017F;o zubo&#x0364;lckten und &#x017F;chrien, als wenn &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
eine halbe viertel Stunde weit vom Wege verirret<lb/>
ha&#x0364;tten, und &#x017F;ich wieder zurecht helfen wollten.</p><lb/>
          <p>Mein Verweiß i&#x017F;t mir &#x017F;chon zum voraus gewiß.<lb/>
Allein ich habe Jhnen &#x017F;chon ge&#x017F;chrieben, daß mich<lb/>
meine Mutter geplagt hat. Wenn ich nicht ein<lb/>
wenig bo&#x0364;&#x017F;e wa&#x0364;re, &#x017F;o wu&#x0364;rde niemand glauben, daß<lb/>
ich meiner Eltern Tochter bin. Sie mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en mich<lb/>
nicht gar zu hart aus&#x017F;chelten, denn &#x017F;o viel habe ich<lb/>
von Jhnen gelernet, daß ich meinen Fehler nie ent-<lb/>
&#x017F;chuldige. Jch habe ge&#x017F;u&#x0364;ndiget! Das i&#x017F;t genug.<lb/>
Wenn Sie es nicht vor genug halten, &#x017F;o &#x017F;ind Sie<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D d 2</fw><fw place="bottom" type="catch">nicht</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[419/0433] Meine Mutter plaget mich. Doch ich leſe mei- nen Brief uͤber, ich habe das ſchon einmahl ge- ſchrieben: allein ſie hat mich gantz aus meiner Faſ- ſung gebracht, wie Sie es nennen. Sie hat in der That den Herrn Hickmann in die Catechiſ- mus-Lehre kriegen wollen: er ſollte antworten, ob er um unſern Briefwechſel etwas wuͤßte. Die Fra- gen waren ſehr ſcharf. Jch glaube, daß ich ein erbaͤrmliches Mitleiden mit dem erbaͤrmlichen Men- ſchen haben muß: denn ich kann nicht leiden, daß ſich ein anderer als ich, das Recht heraus nimmt, ihn fuͤr einen Narren zu halten. Es ſchien, daß die gute Frau ſich ſelbſt vergaß. Sie redete ſehr laut: vielleicht dachte ſie, daß mein Vater wieder aufgelebet waͤre. Herrn Hickmanns Sanft- muth haͤtte ſie wohl von dem Gegentheil uͤberzeugen koͤnnen: denn mein Vater wuͤrde eben ſo laut gere- det haben. Wenn ich noch daran gedencke, wie die Leute ein paar Ellen von einander ſtunden, und einander ſo zuboͤlckten und ſchrien, als wenn ſie ſich eine halbe viertel Stunde weit vom Wege verirret haͤtten, und ſich wieder zurecht helfen wollten. Mein Verweiß iſt mir ſchon zum voraus gewiß. Allein ich habe Jhnen ſchon geſchrieben, daß mich meine Mutter geplagt hat. Wenn ich nicht ein wenig boͤſe waͤre, ſo wuͤrde niemand glauben, daß ich meiner Eltern Tochter bin. Sie muͤſſen mich nicht gar zu hart ausſchelten, denn ſo viel habe ich von Jhnen gelernet, daß ich meinen Fehler nie ent- ſchuldige. Jch habe geſuͤndiget! Das iſt genug. Wenn Sie es nicht vor genug halten, ſo ſind Sie nicht D d 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/433
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/433>, abgerufen am 24.04.2024.