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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749.

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Um 10. Uhr.

Jch habe gesucht, eine vergnügtere Geberde an-
zunehmen, ehe ich hinunter gienge. Die Witwe
und ihre beyden Basen haben mich mit allen ersinn-
lichen Zeichen der Ehrerbietigkeit empfangen. Es
sind ein paar angenehme Frauenzimmer, sie sehen
wohl aus: sie nahmen etwas zurück haltendes an
sich, Herr Lovelace hingegen that so frey, als wenn
er schon lange mit ihnen bekannt gewesen wäre. Jch
muß sagen, daß ihn diese Aufführung sehr wohl
kleidete: es ist dieses gemeiniglich der Vortheil, den
sich junge Herren auf Reisen erwerben.

Nachdem wir das Frühstück eingenommen hat-
ten, erzählete uns die Witwe vieles davon, daß der
seelige Obriste ein guter Soldat gewesen wäre: sie
wischte sich ein paar mahl die Augen. Jch will sie
für so ehrlich halten, daß ich glaube, es sind Thrä-
nen da gewesen, weil sie es uns gern überreden woll-
te: allein ich habe nichts nasses gesehen. Sie wünsch-
te mir, daß ich nie aus der Erfahrung lernen möch-
te, wie schmertzlich es sey einen solchen Mann zu
verlieren, als der seelige Obriste gewesen wäre, den
sie über alles geliebet hätte. Sie zog das Tuch
von neuem aus der Tasche, und wischte sich die Augen.

Es muß freylich sehr betrübt seyn, einen solchen
Mann zu verlieren, der den Nahmen eines liebsten
in der That verdienet, und sich ohne dessen Schuld
nach seinem Tode in solchen Umständen zu sehen, die
niederträchtigen und undanckbaren Leuten Gelegen-
heit geben uns Verdruß zu machen. Nach ihrer
Erzählung hat sie dieses Unglück erfahren: ich ward

darüber


Um 10. Uhr.

Jch habe geſucht, eine vergnuͤgtere Geberde an-
zunehmen, ehe ich hinunter gienge. Die Witwe
und ihre beyden Baſen haben mich mit allen erſinn-
lichen Zeichen der Ehrerbietigkeit empfangen. Es
ſind ein paar angenehme Frauenzimmer, ſie ſehen
wohl aus: ſie nahmen etwas zuruͤck haltendes an
ſich, Herr Lovelace hingegen that ſo frey, als wenn
er ſchon lange mit ihnen bekannt geweſen waͤre. Jch
muß ſagen, daß ihn dieſe Auffuͤhrung ſehr wohl
kleidete: es iſt dieſes gemeiniglich der Vortheil, den
ſich junge Herren auf Reiſen erwerben.

Nachdem wir das Fruͤhſtuͤck eingenommen hat-
ten, erzaͤhlete uns die Witwe vieles davon, daß der
ſeelige Obriſte ein guter Soldat geweſen waͤre: ſie
wiſchte ſich ein paar mahl die Augen. Jch will ſie
fuͤr ſo ehrlich halten, daß ich glaube, es ſind Thraͤ-
nen da geweſen, weil ſie es uns gern uͤberreden woll-
te: allein ich habe nichts naſſes geſehen. Sie wuͤnſch-
te mir, daß ich nie aus der Erfahrung lernen moͤch-
te, wie ſchmertzlich es ſey einen ſolchen Mann zu
verlieren, als der ſeelige Obriſte geweſen waͤre, den
ſie uͤber alles geliebet haͤtte. Sie zog das Tuch
von neuem aus der Taſche, und wiſchte ſich die Augen.

Es muß freylich ſehr betruͤbt ſeyn, einen ſolchen
Mann zu verlieren, der den Nahmen eines liebſten
in der That verdienet, und ſich ohne deſſen Schuld
nach ſeinem Tode in ſolchen Umſtaͤnden zu ſehen, die
niedertraͤchtigen und undanckbaren Leuten Gelegen-
heit geben uns Verdruß zu machen. Nach ihrer
Erzaͤhlung hat ſie dieſes Ungluͤck erfahren: ich ward

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[462/0476] Um 10. Uhr. Jch habe geſucht, eine vergnuͤgtere Geberde an- zunehmen, ehe ich hinunter gienge. Die Witwe und ihre beyden Baſen haben mich mit allen erſinn- lichen Zeichen der Ehrerbietigkeit empfangen. Es ſind ein paar angenehme Frauenzimmer, ſie ſehen wohl aus: ſie nahmen etwas zuruͤck haltendes an ſich, Herr Lovelace hingegen that ſo frey, als wenn er ſchon lange mit ihnen bekannt geweſen waͤre. Jch muß ſagen, daß ihn dieſe Auffuͤhrung ſehr wohl kleidete: es iſt dieſes gemeiniglich der Vortheil, den ſich junge Herren auf Reiſen erwerben. Nachdem wir das Fruͤhſtuͤck eingenommen hat- ten, erzaͤhlete uns die Witwe vieles davon, daß der ſeelige Obriſte ein guter Soldat geweſen waͤre: ſie wiſchte ſich ein paar mahl die Augen. Jch will ſie fuͤr ſo ehrlich halten, daß ich glaube, es ſind Thraͤ- nen da geweſen, weil ſie es uns gern uͤberreden woll- te: allein ich habe nichts naſſes geſehen. Sie wuͤnſch- te mir, daß ich nie aus der Erfahrung lernen moͤch- te, wie ſchmertzlich es ſey einen ſolchen Mann zu verlieren, als der ſeelige Obriſte geweſen waͤre, den ſie uͤber alles geliebet haͤtte. Sie zog das Tuch von neuem aus der Taſche, und wiſchte ſich die Augen. Es muß freylich ſehr betruͤbt ſeyn, einen ſolchen Mann zu verlieren, der den Nahmen eines liebſten in der That verdienet, und ſich ohne deſſen Schuld nach ſeinem Tode in ſolchen Umſtaͤnden zu ſehen, die niedertraͤchtigen und undanckbaren Leuten Gelegen- heit geben uns Verdruß zu machen. Nach ihrer Erzaͤhlung hat ſie dieſes Ungluͤck erfahren: ich ward daruͤber

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/476>, abgerufen am 20.04.2024.