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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
und Technik nach ziemlich archaischen Charakters ist, so kann es uns
nicht überraschen, zur Ausfüllung des Grundes Streumuster verwendet
zu sehen, wie sie der Dipylonstil in die Kunst auf griechischem Boden
gebracht hat, und in der Folge auch der melische, rhodische, frühattische
u. s. w. Stil besessen haben. Man wird infolge dessen mit vollem Recht
fragen dürfen, aus welcher Veranlassung der korinthische Dekorations-
stil nicht in einem früheren Kapitel behandelt worden ist? Die Säumniss
war aber eine absichtliche und ist aus dem Grunde erfolgt, weil das
korinthische Streumuster in überaus lehrreicher und interessanter Weise
die Tendenz zeigt, den Weg zu einem zusammenhängenden Flächen-
muster zu finden.

Das Element des korinthischen Streumusters ist die Rosette,
ebenso wie an assyrischen Kunstwerken11). Möglicherweise ist auch
eine Beeinflussung vom Oriente her dahinter zu vermuthen. Was aber
gewiss nicht orientalisch ist, das ist die eigenthümliche Verwendung,
die der korinthische Stil mit der Rosette vorgenommen hat. Die
Rosetten sind da nämlich nicht bloss gemäss dem jeweilig auszufüllenden
Raume grösser oder kleiner gebildet -- das ist in gewissem Maasse
auch an den assyrischen Denkmälern der Fall -- sondern ihre Kon-
turen schmiegen sich auch vielfach den Umrissen der menschlichen
Figuren, Geräthe u. s. w. an, denen sie unmittelbar benachbart sind.
Bei fortgesetzter Vervollkommnung dieses Processes konnte es schliesslich
nicht ausbleiben, dass der Habitus einer Rosette an den Füllmotiven
vollständig verloren ging und ganz eigenartig verzogene Konfigura-
tionen entstanden, die wir vergebens versuchen würden in dem vor-
handenen ornamentalen Formenschatze unterzubringen. Es ist dies
aber auch gar nicht nöthig, weil die Ornamente ihre Gestalt sozusagen
von den figürlichen Darstellungen, zwischen denen sie eingespannt sind,
erhalten haben12).

Man nehme als Beispiel die Schale mit dem Reigentanz Fig. 99.
Das Streumuster erscheint hier auf die eben beschriebene Weise dazu
verwendet, um eine beliebige gegebene Fläche, unter Vermeidung
der im Dipylon üblich gewesenen langweiligen geometrischen Linien-
combinationen, möglichst vollständig auszufüllen. Darin liegt der Be-
rührungspunkt mit der Aufgabe, welche dem Rankenornamente gestellt
war und deren Lösung wir im Begriffe stehen zu verfolgen. Hinzu-

11) Z. B. Layard I. Taf. 48.
12) Masner, die Sammlung antiker Vasen und Terracotten im k. k. österr.
Museum, S. 9, Fig. 6; hienach unsere Fig. 99.

B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
und Technik nach ziemlich archaischen Charakters ist, so kann es uns
nicht überraschen, zur Ausfüllung des Grundes Streumuster verwendet
zu sehen, wie sie der Dipylonstil in die Kunst auf griechischem Boden
gebracht hat, und in der Folge auch der melische, rhodische, frühattische
u. s. w. Stil besessen haben. Man wird infolge dessen mit vollem Recht
fragen dürfen, aus welcher Veranlassung der korinthische Dekorations-
stil nicht in einem früheren Kapitel behandelt worden ist? Die Säumniss
war aber eine absichtliche und ist aus dem Grunde erfolgt, weil das
korinthische Streumuster in überaus lehrreicher und interessanter Weise
die Tendenz zeigt, den Weg zu einem zusammenhängenden Flächen-
muster zu finden.

Das Element des korinthischen Streumusters ist die Rosette,
ebenso wie an assyrischen Kunstwerken11). Möglicherweise ist auch
eine Beeinflussung vom Oriente her dahinter zu vermuthen. Was aber
gewiss nicht orientalisch ist, das ist die eigenthümliche Verwendung,
die der korinthische Stil mit der Rosette vorgenommen hat. Die
Rosetten sind da nämlich nicht bloss gemäss dem jeweilig auszufüllenden
Raume grösser oder kleiner gebildet — das ist in gewissem Maasse
auch an den assyrischen Denkmälern der Fall — sondern ihre Kon-
turen schmiegen sich auch vielfach den Umrissen der menschlichen
Figuren, Geräthe u. s. w. an, denen sie unmittelbar benachbart sind.
Bei fortgesetzter Vervollkommnung dieses Processes konnte es schliesslich
nicht ausbleiben, dass der Habitus einer Rosette an den Füllmotiven
vollständig verloren ging und ganz eigenartig verzogene Konfigura-
tionen entstanden, die wir vergebens versuchen würden in dem vor-
handenen ornamentalen Formenschatze unterzubringen. Es ist dies
aber auch gar nicht nöthig, weil die Ornamente ihre Gestalt sozusagen
von den figürlichen Darstellungen, zwischen denen sie eingespannt sind,
erhalten haben12).

Man nehme als Beispiel die Schale mit dem Reigentanz Fig. 99.
Das Streumuster erscheint hier auf die eben beschriebene Weise dazu
verwendet, um eine beliebige gegebene Fläche, unter Vermeidung
der im Dipylon üblich gewesenen langweiligen geometrischen Linien-
combinationen, möglichst vollständig auszufüllen. Darin liegt der Be-
rührungspunkt mit der Aufgabe, welche dem Rankenornamente gestellt
war und deren Lösung wir im Begriffe stehen zu verfolgen. Hinzu-

11) Z. B. Layard I. Taf. 48.
12) Masner, die Sammlung antiker Vasen und Terracotten im k. k. österr.
Museum, S. 9, Fig. 6; hienach unsere Fig. 99.
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[198/0224] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. und Technik nach ziemlich archaischen Charakters ist, so kann es uns nicht überraschen, zur Ausfüllung des Grundes Streumuster verwendet zu sehen, wie sie der Dipylonstil in die Kunst auf griechischem Boden gebracht hat, und in der Folge auch der melische, rhodische, frühattische u. s. w. Stil besessen haben. Man wird infolge dessen mit vollem Recht fragen dürfen, aus welcher Veranlassung der korinthische Dekorations- stil nicht in einem früheren Kapitel behandelt worden ist? Die Säumniss war aber eine absichtliche und ist aus dem Grunde erfolgt, weil das korinthische Streumuster in überaus lehrreicher und interessanter Weise die Tendenz zeigt, den Weg zu einem zusammenhängenden Flächen- muster zu finden. Das Element des korinthischen Streumusters ist die Rosette, ebenso wie an assyrischen Kunstwerken 11). Möglicherweise ist auch eine Beeinflussung vom Oriente her dahinter zu vermuthen. Was aber gewiss nicht orientalisch ist, das ist die eigenthümliche Verwendung, die der korinthische Stil mit der Rosette vorgenommen hat. Die Rosetten sind da nämlich nicht bloss gemäss dem jeweilig auszufüllenden Raume grösser oder kleiner gebildet — das ist in gewissem Maasse auch an den assyrischen Denkmälern der Fall — sondern ihre Kon- turen schmiegen sich auch vielfach den Umrissen der menschlichen Figuren, Geräthe u. s. w. an, denen sie unmittelbar benachbart sind. Bei fortgesetzter Vervollkommnung dieses Processes konnte es schliesslich nicht ausbleiben, dass der Habitus einer Rosette an den Füllmotiven vollständig verloren ging und ganz eigenartig verzogene Konfigura- tionen entstanden, die wir vergebens versuchen würden in dem vor- handenen ornamentalen Formenschatze unterzubringen. Es ist dies aber auch gar nicht nöthig, weil die Ornamente ihre Gestalt sozusagen von den figürlichen Darstellungen, zwischen denen sie eingespannt sind, erhalten haben 12). Man nehme als Beispiel die Schale mit dem Reigentanz Fig. 99. Das Streumuster erscheint hier auf die eben beschriebene Weise dazu verwendet, um eine beliebige gegebene Fläche, unter Vermeidung der im Dipylon üblich gewesenen langweiligen geometrischen Linien- combinationen, möglichst vollständig auszufüllen. Darin liegt der Be- rührungspunkt mit der Aufgabe, welche dem Rankenornamente gestellt war und deren Lösung wir im Begriffe stehen zu verfolgen. Hinzu- 11) Z. B. Layard I. Taf. 48. 12) Masner, die Sammlung antiker Vasen und Terracotten im k. k. österr. Museum, S. 9, Fig. 6; hienach unsere Fig. 99.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/224>, abgerufen am 28.03.2024.