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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Die Anfänge des Pflanzenornaments etc.

Soviel aber die bisher gemachten Funde aus prähistorischer Zeit
erkennen lassen, hat sich der Mensch -- entgegen dem Erwarten, das
wir an das oben Gesagte zu knüpfen berechtigt wären -- früher in der
Nachbildung von Thieren als in derjenigen von Pflanzen versucht. So
hat man auf den in den Höhlen der Dordogne gefundenen skulpirten
Rennthierknochen, neben der so stattlichen Anzahl animalischer Bild-
werke, bloss ein einziges Mal (Fig. 6) Motive gefunden, die man um
ihrer rosettenartigen Form willen für die Copie einer Blume halten

[Abbildung] Fig. 6.

Rennthierknochen
mit gravirten
Blumen (?).
La Madeleine.

könnte1). Ähnliche Beobachtungen hat man auf dem Ge-
biete der Ethnologie der heutigen Naturvölker gemacht.
Überall geht das geometrische Ornament und das Thier-
bild der Darstellung von Pflanzen voraus. Ganze, ver-
hältnissmässig hoch ausgebildete Ornamentiken, wie z. B.
die inkaperuanische, scheinen des Pflanzenbildes voll-
ständig zu entbehren. Die Erklärung dieser Erscheinung
werden wir wohl in dem Umstande zu suchen haben,
dass die bewegliche, scheinbar mit freiem Willen ausge-
stattete Thierwelt in weit höherem Grade als die Pflan-
zenwelt die Aufmerksamkeit des Menschen erregt haben
mochte. Thiere und nicht Pflanzen spielen im Fetischis-
mus die Hauptrolle, wie noch die altegypische Götter-
mythologie in ihren den Thierkult betreffenden rudimen-
tären Theilen deutlich beweist. Und ähnlich ist ja das
Verhältniss des Menschen zu Thier und Pflanze in der
Kunst allezeit auch späterhin geblieben. Die perspekti-
vische Durchbildung wurde früher an Menschen und
Thieren, als an den Pflanzen erprobt, die Blume blieb
am längsten "Flachornament" und die "Landschaft" ist
weit später nicht bloss als die religiöse und Historien-
malerei, sondern auch als Porträt und Genre. Es ist also wohl ein-
mal das geringere Interesse, das der Mensch an der scheinbar be-

1) Wäre nicht die angesichts der Zeit- und Kulturumstände verblüffende
Leistungsfähigkeit der Troglodytenkunst, so dürfte man auch auf die Schwie-
rigkeit hinweisen, die das Nachbilden der reich gegliederten Pflanzen in
Skulptur gegenüber den weit minder gegliederten Thierkörpern mit sich brachte.
Die älteste Kunsttechnik war aber gemäss unseren Ausführungen im ersten
Capitel S. 20 die Skulptur. Bildete diese nun Thierfiguren, so konnte dies
immerhin auf die nachfolgenden, in der Fläche bildenden Künste bereits von
traditioneller, also das Pflanzenbild zunächst ausschliessender Wirkung sein.
Die Anfänge des Pflanzenornaments etc.

Soviel aber die bisher gemachten Funde aus prähistorischer Zeit
erkennen lassen, hat sich der Mensch — entgegen dem Erwarten, das
wir an das oben Gesagte zu knüpfen berechtigt wären — früher in der
Nachbildung von Thieren als in derjenigen von Pflanzen versucht. So
hat man auf den in den Höhlen der Dordogne gefundenen skulpirten
Rennthierknochen, neben der so stattlichen Anzahl animalischer Bild-
werke, bloss ein einziges Mal (Fig. 6) Motive gefunden, die man um
ihrer rosettenartigen Form willen für die Copie einer Blume halten

[Abbildung] Fig. 6.

Rennthierknochen
mit gravirten
Blumen (?).
La Madeleine.

könnte1). Ähnliche Beobachtungen hat man auf dem Ge-
biete der Ethnologie der heutigen Naturvölker gemacht.
Überall geht das geometrische Ornament und das Thier-
bild der Darstellung von Pflanzen voraus. Ganze, ver-
hältnissmässig hoch ausgebildete Ornamentiken, wie z. B.
die inkaperuanische, scheinen des Pflanzenbildes voll-
ständig zu entbehren. Die Erklärung dieser Erscheinung
werden wir wohl in dem Umstande zu suchen haben,
dass die bewegliche, scheinbar mit freiem Willen ausge-
stattete Thierwelt in weit höherem Grade als die Pflan-
zenwelt die Aufmerksamkeit des Menschen erregt haben
mochte. Thiere und nicht Pflanzen spielen im Fetischis-
mus die Hauptrolle, wie noch die altegypische Götter-
mythologie in ihren den Thierkult betreffenden rudimen-
tären Theilen deutlich beweist. Und ähnlich ist ja das
Verhältniss des Menschen zu Thier und Pflanze in der
Kunst allezeit auch späterhin geblieben. Die perspekti-
vische Durchbildung wurde früher an Menschen und
Thieren, als an den Pflanzen erprobt, die Blume blieb
am längsten „Flachornament“ und die „Landschaft“ ist
weit später nicht bloss als die religiöse und Historien-
malerei, sondern auch als Porträt und Genre. Es ist also wohl ein-
mal das geringere Interesse, das der Mensch an der scheinbar be-

1) Wäre nicht die angesichts der Zeit- und Kulturumstände verblüffende
Leistungsfähigkeit der Troglodytenkunst, so dürfte man auch auf die Schwie-
rigkeit hinweisen, die das Nachbilden der reich gegliederten Pflanzen in
Skulptur gegenüber den weit minder gegliederten Thierkörpern mit sich brachte.
Die älteste Kunsttechnik war aber gemäss unseren Ausführungen im ersten
Capitel S. 20 die Skulptur. Bildete diese nun Thierfiguren, so konnte dies
immerhin auf die nachfolgenden, in der Fläche bildenden Künste bereits von
traditioneller, also das Pflanzenbild zunächst ausschliessender Wirkung sein.
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[42/0068] Die Anfänge des Pflanzenornaments etc. Soviel aber die bisher gemachten Funde aus prähistorischer Zeit erkennen lassen, hat sich der Mensch — entgegen dem Erwarten, das wir an das oben Gesagte zu knüpfen berechtigt wären — früher in der Nachbildung von Thieren als in derjenigen von Pflanzen versucht. So hat man auf den in den Höhlen der Dordogne gefundenen skulpirten Rennthierknochen, neben der so stattlichen Anzahl animalischer Bild- werke, bloss ein einziges Mal (Fig. 6) Motive gefunden, die man um ihrer rosettenartigen Form willen für die Copie einer Blume halten [Abbildung Fig. 6. Rennthierknochen mit gravirten Blumen (?). La Madeleine.] könnte 1). Ähnliche Beobachtungen hat man auf dem Ge- biete der Ethnologie der heutigen Naturvölker gemacht. Überall geht das geometrische Ornament und das Thier- bild der Darstellung von Pflanzen voraus. Ganze, ver- hältnissmässig hoch ausgebildete Ornamentiken, wie z. B. die inkaperuanische, scheinen des Pflanzenbildes voll- ständig zu entbehren. Die Erklärung dieser Erscheinung werden wir wohl in dem Umstande zu suchen haben, dass die bewegliche, scheinbar mit freiem Willen ausge- stattete Thierwelt in weit höherem Grade als die Pflan- zenwelt die Aufmerksamkeit des Menschen erregt haben mochte. Thiere und nicht Pflanzen spielen im Fetischis- mus die Hauptrolle, wie noch die altegypische Götter- mythologie in ihren den Thierkult betreffenden rudimen- tären Theilen deutlich beweist. Und ähnlich ist ja das Verhältniss des Menschen zu Thier und Pflanze in der Kunst allezeit auch späterhin geblieben. Die perspekti- vische Durchbildung wurde früher an Menschen und Thieren, als an den Pflanzen erprobt, die Blume blieb am längsten „Flachornament“ und die „Landschaft“ ist weit später nicht bloss als die religiöse und Historien- malerei, sondern auch als Porträt und Genre. Es ist also wohl ein- mal das geringere Interesse, das der Mensch an der scheinbar be- 1) Wäre nicht die angesichts der Zeit- und Kulturumstände verblüffende Leistungsfähigkeit der Troglodytenkunst, so dürfte man auch auf die Schwie- rigkeit hinweisen, die das Nachbilden der reich gegliederten Pflanzen in Skulptur gegenüber den weit minder gegliederten Thierkörpern mit sich brachte. Die älteste Kunsttechnik war aber gemäss unseren Ausführungen im ersten Capitel S. 20 die Skulptur. Bildete diese nun Thierfiguren, so konnte dies immerhin auf die nachfolgenden, in der Fläche bildenden Künste bereits von traditioneller, also das Pflanzenbild zunächst ausschliessender Wirkung sein.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/68>, abgerufen am 18.04.2024.