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Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen. Berlin, 1728.

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I. Theil. I. Capitul.

§. 35. Bey Ausübung der menschlichen Hand-
lungen, und Abstattung der Pflichten, die wir als
vernünfftige Menschen gegen uns selbst und gegen
unsern Nächsten zu erweisen haben, begiebt es sich
nicht selten, daß eine wider die andere läufft. Da
es nun unmöglich ist, daß man zu gleicher Zeit al-
len beyden ein Genügen leisten kan, so muß man
nothwendig wissen, welche Regel man zu der Zeit,
da ein paar sich widersprechende Sätze zusammen
stossen, der andern vorziehen soll. Da mir nun
verhoffentlich ein jedweder vernünfftiger Mensch
einräumen wird, daß man etwas vollkommners
einem unvollkommnern Gut, und ein grösser Maß
der Vollkommenheit und Glückseligkeit, einem ge-
ringern Maß vorzuziehen hat, so hat man bey der-
gleichen Fall zu beurtheilen, welche Handlung unse-
re wahre Glückseligkeit auf eine vollkommnere Art
befördert oder nicht, und welcher Gesetzgeber, den
natürlichen Rechten nach, einen grössern Gehorsam
von uns zu fodern berechtiget. Will man nun
hierbey vernünfftig verfahren, und die gradus recht
bestimmen, so hat man folgendes zu mercken. Die
göttlichen Gebothe und Verbothe sind allen andern
vorzuziehen, und wann eine Regul des Wohlstan-
des an einem, von den göttlichen Aussprüchen, an-
stossen will, so muß das Ceremoniel weichen. Jst
eine ewige Glückseligkeit der gantzen zeitlichen, und
nach dem Ausspruch des Heylandes, die Erhaltung
der Seele der Gewinnung der Welt vorzuziehen,
wie vielmehr nun einem kleinen Stückgen der zeit-

lichen
I. Theil. I. Capitul.

§. 35. Bey Ausuͤbung der menſchlichen Hand-
lungen, und Abſtattung der Pflichten, die wir als
vernuͤnfftige Menſchen gegen uns ſelbſt und gegen
unſern Naͤchſten zu erweiſen haben, begiebt es ſich
nicht ſelten, daß eine wider die andere laͤufft. Da
es nun unmoͤglich iſt, daß man zu gleicher Zeit al-
len beyden ein Genuͤgen leiſten kan, ſo muß man
nothwendig wiſſen, welche Regel man zu der Zeit,
da ein paar ſich widerſprechende Saͤtze zuſammen
ſtoſſen, der andern vorziehen ſoll. Da mir nun
verhoffentlich ein jedweder vernuͤnfftiger Menſch
einraͤumen wird, daß man etwas vollkommners
einem unvollkommnern Gut, und ein groͤſſer Maß
der Vollkommenheit und Gluͤckſeligkeit, einem ge-
ringern Maß vorzuziehen hat, ſo hat man bey der-
gleichen Fall zu beurtheilen, welche Handlung unſe-
re wahre Gluͤckſeligkeit auf eine vollkommnere Art
befoͤrdert oder nicht, und welcher Geſetzgeber, den
natuͤrlichen Rechten nach, einen groͤſſern Gehorſam
von uns zu fodern berechtiget. Will man nun
hierbey vernuͤnfftig verfahren, und die gradus recht
beſtimmen, ſo hat man folgendes zu mercken. Die
goͤttlichen Gebothe und Verbothe ſind allen andern
vorzuziehen, und wann eine Regul des Wohlſtan-
des an einem, von den goͤttlichen Ausſpruͤchen, an-
ſtoſſen will, ſo muß das Ceremoniel weichen. Jſt
eine ewige Gluͤckſeligkeit der gantzen zeitlichen, und
nach dem Ausſpruch des Heylandes, die Erhaltung
der Seele der Gewinnung der Welt vorzuziehen,
wie vielmehr nun einem kleinen Stuͤckgen der zeit-

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[30/0050] I. Theil. I. Capitul. §. 35. Bey Ausuͤbung der menſchlichen Hand- lungen, und Abſtattung der Pflichten, die wir als vernuͤnfftige Menſchen gegen uns ſelbſt und gegen unſern Naͤchſten zu erweiſen haben, begiebt es ſich nicht ſelten, daß eine wider die andere laͤufft. Da es nun unmoͤglich iſt, daß man zu gleicher Zeit al- len beyden ein Genuͤgen leiſten kan, ſo muß man nothwendig wiſſen, welche Regel man zu der Zeit, da ein paar ſich widerſprechende Saͤtze zuſammen ſtoſſen, der andern vorziehen ſoll. Da mir nun verhoffentlich ein jedweder vernuͤnfftiger Menſch einraͤumen wird, daß man etwas vollkommners einem unvollkommnern Gut, und ein groͤſſer Maß der Vollkommenheit und Gluͤckſeligkeit, einem ge- ringern Maß vorzuziehen hat, ſo hat man bey der- gleichen Fall zu beurtheilen, welche Handlung unſe- re wahre Gluͤckſeligkeit auf eine vollkommnere Art befoͤrdert oder nicht, und welcher Geſetzgeber, den natuͤrlichen Rechten nach, einen groͤſſern Gehorſam von uns zu fodern berechtiget. Will man nun hierbey vernuͤnfftig verfahren, und die gradus recht beſtimmen, ſo hat man folgendes zu mercken. Die goͤttlichen Gebothe und Verbothe ſind allen andern vorzuziehen, und wann eine Regul des Wohlſtan- des an einem, von den goͤttlichen Ausſpruͤchen, an- ſtoſſen will, ſo muß das Ceremoniel weichen. Jſt eine ewige Gluͤckſeligkeit der gantzen zeitlichen, und nach dem Ausſpruch des Heylandes, die Erhaltung der Seele der Gewinnung der Welt vorzuziehen, wie vielmehr nun einem kleinen Stuͤckgen der zeit- lichen

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Zitationshilfe: Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen. Berlin, 1728, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohr_einleitung_1728/50>, abgerufen am 25.04.2024.