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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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egoistisch ist; "la faiblesse engendre la faussete et c'est
pour cela, que vous etes egoiste et ingrat."
Sylvain be¬
greift sich endlich und nun wird dieser Mutterverzug, dieser
Stubenhocker, ein ganz anderer Mensch, der seine Liebe zur
Fadette im Schlachtenlärm der Napoleonischen Kriege zu
vergessen sucht.

Am Häßlichsten muß die Schwächlichkeit offenbar er¬
scheinen, wenn sie mit der Macht selber verbunden ist. Die
Macht sollte sich mit ihr nicht bestecken; um so mehr degra¬
dirt sie sich, wenn sie es dennoch thut. Für die Natur hat
dies keinen Sinn, weil ihr der freie Wille fehlt. Wenn dem
riesigen Elephanten in der Nähe der winzigen Maus der
Angstschweiß ausbricht, so ist das keine Schwächlichkeit
desselben, sondern ein ganz richtiger Instinct, weil die Maus,
kröche sie in seinen Rüssel, ihn mit ihrem Gekrabbel bis zur
Tobsucht aufstacheln würde. Fröhnt aber ein Fürst, ein
Held, ein hoher Priester, seinen Launen, seinen Schwächen,
so fällt er damit in eine Gemeinheit, die mit seinem Wesen
um so greller contrastirt. Daß z. B. der König David den
Urias verrätherisch aus dem Wege räumt, dessen Weib
Bathseba ungescheut genießen zu können, ist zumal für einen
König von der Tendenz seines Charakters eine Schwäche,
in welcher er bis zur Gemeinheit und bis zum Verbrechen
heruntersinkt. Wenn Meißners Weib des Urias ein
mißrathenes Drama ist, so liegt die eine Hälfte der Schuld
an der Wahl des Stoffs.

Ins Komische schlägt das Schwächliche um, wenn
dasselbe sich verkennt und sich als Stärke gerirt. Jedoch wird
dieser Widerspruch nur dann lächerlich, wenn der Inhalt der
Schwäche die Forderungen der Tugend nicht zu empfindlich
verletzt. Es werden daher intellektuelle Schwächen, Schwächen

egoiſtiſch iſt; „la faiblesse engendre la fausseté et c'est
pour cela, que vous êtes égoïste et ingrat.“
Sylvain be¬
greift ſich endlich und nun wird dieſer Mutterverzug, dieſer
Stubenhocker, ein ganz anderer Menſch, der ſeine Liebe zur
Fadette im Schlachtenlärm der Napoleoniſchen Kriege zu
vergeſſen ſucht.

Am Häßlichſten muß die Schwächlichkeit offenbar er¬
ſcheinen, wenn ſie mit der Macht ſelber verbunden iſt. Die
Macht ſollte ſich mit ihr nicht beſtecken; um ſo mehr degra¬
dirt ſie ſich, wenn ſie es dennoch thut. Für die Natur hat
dies keinen Sinn, weil ihr der freie Wille fehlt. Wenn dem
rieſigen Elephanten in der Nähe der winzigen Maus der
Angſtſchweiß ausbricht, ſo iſt das keine Schwächlichkeit
deſſelben, ſondern ein ganz richtiger Inſtinct, weil die Maus,
kröche ſie in ſeinen Rüſſel, ihn mit ihrem Gekrabbel bis zur
Tobſucht aufſtacheln würde. Fröhnt aber ein Fürſt, ein
Held, ein hoher Prieſter, ſeinen Launen, ſeinen Schwächen,
ſo fällt er damit in eine Gemeinheit, die mit ſeinem Weſen
um ſo greller contraſtirt. Daß z. B. der König David den
Urias verrätheriſch aus dem Wege räumt, deſſen Weib
Bathſeba ungeſcheut genießen zu können, iſt zumal für einen
König von der Tendenz ſeines Charakters eine Schwäche,
in welcher er bis zur Gemeinheit und bis zum Verbrechen
herunterſinkt. Wenn Meißners Weib des Urias ein
mißrathenes Drama iſt, ſo liegt die eine Hälfte der Schuld
an der Wahl des Stoffs.

Ins Komiſche ſchlägt das Schwächliche um, wenn
daſſelbe ſich verkennt und ſich als Stärke gerirt. Jedoch wird
dieſer Widerſpruch nur dann lächerlich, wenn der Inhalt der
Schwäche die Forderungen der Tugend nicht zu empfindlich
verletzt. Es werden daher intellektuelle Schwächen, Schwächen

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[196/0218] egoiſtiſch iſt; „la faiblesse engendre la fausseté et c'est pour cela, que vous êtes égoïste et ingrat.“ Sylvain be¬ greift ſich endlich und nun wird dieſer Mutterverzug, dieſer Stubenhocker, ein ganz anderer Menſch, der ſeine Liebe zur Fadette im Schlachtenlärm der Napoleoniſchen Kriege zu vergeſſen ſucht. Am Häßlichſten muß die Schwächlichkeit offenbar er¬ ſcheinen, wenn ſie mit der Macht ſelber verbunden iſt. Die Macht ſollte ſich mit ihr nicht beſtecken; um ſo mehr degra¬ dirt ſie ſich, wenn ſie es dennoch thut. Für die Natur hat dies keinen Sinn, weil ihr der freie Wille fehlt. Wenn dem rieſigen Elephanten in der Nähe der winzigen Maus der Angſtſchweiß ausbricht, ſo iſt das keine Schwächlichkeit deſſelben, ſondern ein ganz richtiger Inſtinct, weil die Maus, kröche ſie in ſeinen Rüſſel, ihn mit ihrem Gekrabbel bis zur Tobſucht aufſtacheln würde. Fröhnt aber ein Fürſt, ein Held, ein hoher Prieſter, ſeinen Launen, ſeinen Schwächen, ſo fällt er damit in eine Gemeinheit, die mit ſeinem Weſen um ſo greller contraſtirt. Daß z. B. der König David den Urias verrätheriſch aus dem Wege räumt, deſſen Weib Bathſeba ungeſcheut genießen zu können, iſt zumal für einen König von der Tendenz ſeines Charakters eine Schwäche, in welcher er bis zur Gemeinheit und bis zum Verbrechen herunterſinkt. Wenn Meißners Weib des Urias ein mißrathenes Drama iſt, ſo liegt die eine Hälfte der Schuld an der Wahl des Stoffs. Ins Komiſche ſchlägt das Schwächliche um, wenn daſſelbe ſich verkennt und ſich als Stärke gerirt. Jedoch wird dieſer Widerſpruch nur dann lächerlich, wenn der Inhalt der Schwäche die Forderungen der Tugend nicht zu empfindlich verletzt. Es werden daher intellektuelle Schwächen, Schwächen

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/218>, abgerufen am 29.03.2024.