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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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antworten! Herbeiführen soll die Erzieherin
keine solche Ueberraschung, wodurch das junge
Gemüth zu heftig erschüttert werden kann. Sahe
ich doch einmal ein fünfjähriges Kind zu Grunde
gehen, welches man durch die plötzliche Wiederer-
scheinung seiner Wärterin, die lange verreis't ge-
wesen war, angenehm überraschen wollte. Das
Kind liebte kräftiger, als man ihm zugetraut
hatte; die Freude, und besonders das überlaute
Freudengeschrei der guten Person erschütterte das
Kind so gewaltig, daß es die Sprache, wie den
Gebrauch aller seiner Sinne auf der Stelle verlor,
und völlig stupide wurde und blieb. Jch sah es
als sechzehnjähriges Mädchen, wo es bloß noch
eine starke Körpermasse war, voll blühender Ge-
sundheit, aber ohne alle Seele. Ein anderes
junges Mädchen von 15 Jahren hätte bald die
frohe Ueberraschung, die der Onkel ihr zugedacht,
eben so schwer gebüßt. Wie versteinert, fast le-
benlos stand sie da, als plötzlich ihr jüngerer Bru-
der vor ihr stand, den sie 60 Meilen entfernt ver-
muthete. Es dauerte sehr lange, ehe sie nur wei-
nen konnte, und mehrere Wochen hindurch blieb

antworten! Herbeiführen ſoll die Erzieherin
keine ſolche Ueberraſchung, wodurch das junge
Gemüth zu heftig erſchüttert werden kann. Sahe
ich doch einmal ein fünfjähriges Kind zu Grunde
gehen, welches man durch die plötzliche Wiederer-
ſcheinung ſeiner Wärterin, die lange verreiſ’t ge-
weſen war, angenehm überraſchen wollte. Das
Kind liebte kräftiger, als man ihm zugetraut
hatte; die Freude, und beſonders das überlaute
Freudengeſchrei der guten Perſon erſchütterte das
Kind ſo gewaltig, daß es die Sprache, wie den
Gebrauch aller ſeiner Sinne auf der Stelle verlor,
und völlig ſtupide wurde und blieb. Jch ſah es
als ſechzehnjähriges Mädchen, wo es bloß noch
eine ſtarke Körpermaſſe war, voll blühender Ge-
ſundheit, aber ohne alle Seele. Ein anderes
junges Mädchen von 15 Jahren hätte bald die
frohe Ueberraſchung, die der Onkel ihr zugedacht,
eben ſo ſchwer gebüßt. Wie verſteinert, faſt le-
benlos ſtand ſie da, als plötzlich ihr jüngerer Bru-
der vor ihr ſtand, den ſie 60 Meilen entfernt ver-
muthete. Es dauerte ſehr lange, ehe ſie nur wei-
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[27/0035] antworten! Herbeiführen ſoll die Erzieherin keine ſolche Ueberraſchung, wodurch das junge Gemüth zu heftig erſchüttert werden kann. Sahe ich doch einmal ein fünfjähriges Kind zu Grunde gehen, welches man durch die plötzliche Wiederer- ſcheinung ſeiner Wärterin, die lange verreiſ’t ge- weſen war, angenehm überraſchen wollte. Das Kind liebte kräftiger, als man ihm zugetraut hatte; die Freude, und beſonders das überlaute Freudengeſchrei der guten Perſon erſchütterte das Kind ſo gewaltig, daß es die Sprache, wie den Gebrauch aller ſeiner Sinne auf der Stelle verlor, und völlig ſtupide wurde und blieb. Jch ſah es als ſechzehnjähriges Mädchen, wo es bloß noch eine ſtarke Körpermaſſe war, voll blühender Ge- ſundheit, aber ohne alle Seele. Ein anderes junges Mädchen von 15 Jahren hätte bald die frohe Ueberraſchung, die der Onkel ihr zugedacht, eben ſo ſchwer gebüßt. Wie verſteinert, faſt le- benlos ſtand ſie da, als plötzlich ihr jüngerer Bru- der vor ihr ſtand, den ſie 60 Meilen entfernt ver- muthete. Es dauerte ſehr lange, ehe ſie nur wei- nen konnte, und mehrere Wochen hindurch blieb

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/35>, abgerufen am 19.04.2024.