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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831.

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eines Vorurtheiles gefolgt sey, vermöge dessen die italienischen
Annalisten, und selbst spätere Schriftsteller, alles Fremdartige,
alles, was die Alten barbarisch zu nennen pflegten, seit vie-
len Jahrhunderten gothisch nennen, und den Ostgothen bey-
messen. *)

Erwägen wir aber, daß Vasari der neueren Kunstsprache
alleiniger Schöpfer ist, daß die meisten, vielleicht alle neuere
Kunstbegriffe bis auf seine Schriften sich zurückführen lassen,
diese allgemein gelesen, wenigstens durch die Auszüge des van
Mander
, Sandrart und neuerer bekannt sind: so wird die
Entstehung des historisch ganz widersinnigen Kunstwortes,
gothische Architectur, ohne Zwang aus jenen verwege-
nen Behauptungen abzuleiten seyn. In Ansehung aber, daß
schon Vasari, der Stifter dieser historisch widersinnigen Be-
nennung, sie nicht festgehalten und häufig zu der besser be-
gründeten, maniera Tedesca, hinüberschwankt; in Erwägung
ferner, daß wir gegenwärtig mit größter historischer Sicher-

*) Seit Muratori und Maffei (d. i. seit Entstehung genauer, er-
schöpfender, kritischer Forschungen im Gebiete der Geschichte des ital.
Mittelalters) haben bald die Gothen, bald die Longobarden, bald die
germanischen Einwanderer überhaupt, in Italien ihre Vertheidiger ge-
funden, hat man andererseits in den Vorurtheilen älterer Zeiten (welche
eigentlich aus Religions-Differenzen entstanden sind) einen allgemei-
nen Entschuldigungsgrund für alles Verkehrte und Ueble zu finden ge-
glaubt, welches Vasari und so viele andere den Gothen nachgesagt,
oder auf sie geschoben hatten. -- Ich fordere nicht, daß Vasari, dem
historische Kritik fremd war, über die Vorurtheile seiner Zeitgenossen
sich hätte erheben sollen. Allein, um die Unvereinbarkeit dieser Vor-
urtheile mit den sicheren Thatsachen, von denen er Kunde hatte, ein-
zusehen, bedurfte es nichts weiter, als eines sehr gemeinen Grades von
Aufmerksamkeit und Gedächtniß. Sehr oft umschließt bei ihm ein ein-
ziger Satz gegenseitig sich Aufhebendes, Wahres und Falsches.

eines Vorurtheiles gefolgt ſey, vermoͤge deſſen die italieniſchen
Annaliſten, und ſelbſt ſpaͤtere Schriftſteller, alles Fremdartige,
alles, was die Alten barbariſch zu nennen pflegten, ſeit vie-
len Jahrhunderten gothiſch nennen, und den Oſtgothen bey-
meſſen. *)

Erwaͤgen wir aber, daß Vaſari der neueren Kunſtſprache
alleiniger Schoͤpfer iſt, daß die meiſten, vielleicht alle neuere
Kunſtbegriffe bis auf ſeine Schriften ſich zuruͤckfuͤhren laſſen,
dieſe allgemein geleſen, wenigſtens durch die Auszuͤge des van
Mander
, Sandrart und neuerer bekannt ſind: ſo wird die
Entſtehung des hiſtoriſch ganz widerſinnigen Kunſtwortes,
gothiſche Architectur, ohne Zwang aus jenen verwege-
nen Behauptungen abzuleiten ſeyn. In Anſehung aber, daß
ſchon Vaſari, der Stifter dieſer hiſtoriſch widerſinnigen Be-
nennung, ſie nicht feſtgehalten und haͤufig zu der beſſer be-
gruͤndeten, maniera Tedesca, hinuͤberſchwankt; in Erwaͤgung
ferner, daß wir gegenwaͤrtig mit groͤßter hiſtoriſcher Sicher-

*) Seit Muratori und Maffei (d. i. ſeit Entſtehung genauer, er-
ſchöpfender, kritiſcher Forſchungen im Gebiete der Geſchichte des ital.
Mittelalters) haben bald die Gothen, bald die Longobarden, bald die
germaniſchen Einwanderer überhaupt, in Italien ihre Vertheidiger ge-
funden, hat man andererſeits in den Vorurtheilen älterer Zeiten (welche
eigentlich aus Religions-Differenzen entſtanden ſind) einen allgemei-
nen Entſchuldigungsgrund für alles Verkehrte und Ueble zu finden ge-
glaubt, welches Vaſari und ſo viele andere den Gothen nachgeſagt,
oder auf ſie geſchoben hatten. — Ich fordere nicht, daß Vaſari, dem
hiſtoriſche Kritik fremd war, über die Vorurtheile ſeiner Zeitgenoſſen
ſich hätte erheben ſollen. Allein, um die Unvereinbarkeit dieſer Vor-
urtheile mit den ſicheren Thatſachen, von denen er Kunde hatte, ein-
zuſehen, bedurfte es nichts weiter, als eines ſehr gemeinen Grades von
Aufmerkſamkeit und Gedächtniß. Sehr oft umſchließt bei ihm ein ein-
ziger Satz gegenſeitig ſich Aufhebendes, Wahres und Falſches.
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[169/0191] eines Vorurtheiles gefolgt ſey, vermoͤge deſſen die italieniſchen Annaliſten, und ſelbſt ſpaͤtere Schriftſteller, alles Fremdartige, alles, was die Alten barbariſch zu nennen pflegten, ſeit vie- len Jahrhunderten gothiſch nennen, und den Oſtgothen bey- meſſen. *) Erwaͤgen wir aber, daß Vaſari der neueren Kunſtſprache alleiniger Schoͤpfer iſt, daß die meiſten, vielleicht alle neuere Kunſtbegriffe bis auf ſeine Schriften ſich zuruͤckfuͤhren laſſen, dieſe allgemein geleſen, wenigſtens durch die Auszuͤge des van Mander, Sandrart und neuerer bekannt ſind: ſo wird die Entſtehung des hiſtoriſch ganz widerſinnigen Kunſtwortes, gothiſche Architectur, ohne Zwang aus jenen verwege- nen Behauptungen abzuleiten ſeyn. In Anſehung aber, daß ſchon Vaſari, der Stifter dieſer hiſtoriſch widerſinnigen Be- nennung, ſie nicht feſtgehalten und haͤufig zu der beſſer be- gruͤndeten, maniera Tedesca, hinuͤberſchwankt; in Erwaͤgung ferner, daß wir gegenwaͤrtig mit groͤßter hiſtoriſcher Sicher- *) Seit Muratori und Maffei (d. i. ſeit Entſtehung genauer, er- ſchöpfender, kritiſcher Forſchungen im Gebiete der Geſchichte des ital. Mittelalters) haben bald die Gothen, bald die Longobarden, bald die germaniſchen Einwanderer überhaupt, in Italien ihre Vertheidiger ge- funden, hat man andererſeits in den Vorurtheilen älterer Zeiten (welche eigentlich aus Religions-Differenzen entſtanden ſind) einen allgemei- nen Entſchuldigungsgrund für alles Verkehrte und Ueble zu finden ge- glaubt, welches Vaſari und ſo viele andere den Gothen nachgeſagt, oder auf ſie geſchoben hatten. — Ich fordere nicht, daß Vaſari, dem hiſtoriſche Kritik fremd war, über die Vorurtheile ſeiner Zeitgenoſſen ſich hätte erheben ſollen. Allein, um die Unvereinbarkeit dieſer Vor- urtheile mit den ſicheren Thatſachen, von denen er Kunde hatte, ein- zuſehen, bedurfte es nichts weiter, als eines ſehr gemeinen Grades von Aufmerkſamkeit und Gedächtniß. Sehr oft umſchließt bei ihm ein ein- ziger Satz gegenſeitig ſich Aufhebendes, Wahres und Falſches.

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Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831/191>, abgerufen am 19.04.2024.