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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

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Zweyter Abschnitt.
und sich nichts daraus macht, wenn ein
paar hundert Mann im Moraste stecken blei-
ben. Ihr Gott ist, um das schonendste
Bild zu wählen, ein Künstler, der eine
sich selbst bewegende Kunstuhr vollendet, --
ihr den ersten Trieb zur Bewegung gegeben,
und sich nicht mehr um Gang, und Schick-
sale einzeler Räder bekümmert. Ihr Gott
verderbt die Zeit nicht damit, daß er auf
die heissen Angstthränen, die die Wangen
der Wittwe durchglühen, heruntersähe, oder
dem Wehegeheul des Waisen, der sich ohne
Mutter und ohne Hülfe in der Welt sieht,
zuhörte -- wenn auch sein Aug und Ohr
so weit reichten.

Wer nun an einen solchen Gott glaubt,
der glaubt an keinen (r). Wer an einen
solchen Gott glaubt, der sieht das Beten,
als erste Thorheit an, so wie es eine Thor-
heit wäre, wenn der Schiffbruchleidende im
Untergehen einen tauben Felsen um Hülfe
anflehete. Wer aber ohne Gott, und ohne

Gebet
(r) Denn es ist wider alle gesunde Begriffe ei-
nen Gott annehmen, der das Allgemeine be-
sorgt, ohne das Einzele zu besorgen.

Zweyter Abſchnitt.
und ſich nichts daraus macht, wenn ein
paar hundert Mann im Moraſte ſtecken blei-
ben. Ihr Gott iſt, um das ſchonendſte
Bild zu waͤhlen, ein Kuͤnſtler, der eine
ſich ſelbſt bewegende Kunſtuhr vollendet, —
ihr den erſten Trieb zur Bewegung gegeben,
und ſich nicht mehr um Gang, und Schick-
ſale einzeler Raͤder bekuͤmmert. Ihr Gott
verderbt die Zeit nicht damit, daß er auf
die heiſſen Angſtthraͤnen, die die Wangen
der Wittwe durchgluͤhen, herunterſaͤhe, oder
dem Wehegeheul des Waiſen, der ſich ohne
Mutter und ohne Huͤlfe in der Welt ſieht,
zuhoͤrte — wenn auch ſein Aug und Ohr
ſo weit reichten.

Wer nun an einen ſolchen Gott glaubt,
der glaubt an keinen (r). Wer an einen
ſolchen Gott glaubt, der ſieht das Beten,
als erſte Thorheit an, ſo wie es eine Thor-
heit waͤre, wenn der Schiffbruchleidende im
Untergehen einen tauben Felſen um Huͤlfe
anflehete. Wer aber ohne Gott, und ohne

Gebet
(r) Denn es iſt wider alle geſunde Begriffe ei-
nen Gott annehmen, der das Allgemeine be-
ſorgt, ohne das Einzele zu beſorgen.
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[106/0118] Zweyter Abſchnitt. und ſich nichts daraus macht, wenn ein paar hundert Mann im Moraſte ſtecken blei- ben. Ihr Gott iſt, um das ſchonendſte Bild zu waͤhlen, ein Kuͤnſtler, der eine ſich ſelbſt bewegende Kunſtuhr vollendet, — ihr den erſten Trieb zur Bewegung gegeben, und ſich nicht mehr um Gang, und Schick- ſale einzeler Raͤder bekuͤmmert. Ihr Gott verderbt die Zeit nicht damit, daß er auf die heiſſen Angſtthraͤnen, die die Wangen der Wittwe durchgluͤhen, herunterſaͤhe, oder dem Wehegeheul des Waiſen, der ſich ohne Mutter und ohne Huͤlfe in der Welt ſieht, zuhoͤrte — wenn auch ſein Aug und Ohr ſo weit reichten. Wer nun an einen ſolchen Gott glaubt, der glaubt an keinen (r). Wer an einen ſolchen Gott glaubt, der ſieht das Beten, als erſte Thorheit an, ſo wie es eine Thor- heit waͤre, wenn der Schiffbruchleidende im Untergehen einen tauben Felſen um Huͤlfe anflehete. Wer aber ohne Gott, und ohne Gebet (r) Denn es iſt wider alle geſunde Begriffe ei- nen Gott annehmen, der das Allgemeine be- ſorgt, ohne das Einzele zu beſorgen.

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/118>, abgerufen am 24.04.2024.