Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Scheingründe für den Selbstmord.
die Reitzbarkeit des Nervensystems und sein
Einfluß auf das sittliche Betragen der Men-
schen auch mit in Anschlag gebracht werden,
wenn man die Sittlichkeit ihrer Handlun-
gen, und die Grade derselben genau bestim-
men wollte, oder könnte. Allein man hat
deshalb noch keinen Beruf, die Reitzbarkeit
der Nerven zur Decke zu machen, unter der
die Leidenschaften ihre fürchterlichen Griffe
gar bequem verbergen können. Und da
stoße ich weiter auf eine Lieblingsthorheit un-
serer hochgerühmten Zeitweisheit, nämlich:
"Man schreibt auf einer Seite die ersten
Ausschweifungen dem schwachen Fibern-
bau auf die Rechnung, und thut auf
der andern zu gleicher Zeit alles Aeus-
serste, um die schwächliche, leichtbe-
wegliche, reitzbare Fiber nur noch
schwächlicher, leichtbeweglicher, im-
mer reitzbarer zu machen."

Man spricht vom schwachen Fibern-
bau -- und giebt dem schwachen Geschöpfe
Romanen in die Hand, die die Empfin-
dung auf's höchste spannen, und den Jüng-

ling
H 2

Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
die Reitzbarkeit des Nervenſyſtems und ſein
Einfluß auf das ſittliche Betragen der Men-
ſchen auch mit in Anſchlag gebracht werden,
wenn man die Sittlichkeit ihrer Handlun-
gen, und die Grade derſelben genau beſtim-
men wollte, oder koͤnnte. Allein man hat
deshalb noch keinen Beruf, die Reitzbarkeit
der Nerven zur Decke zu machen, unter der
die Leidenſchaften ihre fuͤrchterlichen Griffe
gar bequem verbergen koͤnnen. Und da
ſtoße ich weiter auf eine Lieblingsthorheit un-
ſerer hochgeruͤhmten Zeitweisheit, naͤmlich:
„Man ſchreibt auf einer Seite die erſten
Ausſchweifungen dem ſchwachen Fibern-
bau auf die Rechnung, und thut auf
der andern zu gleicher Zeit alles Aeuſ-
ſerſte, um die ſchwaͤchliche, leichtbe-
wegliche, reitzbare Fiber nur noch
ſchwaͤchlicher, leichtbeweglicher, im-
mer reitzbarer zu machen.“

Man ſpricht vom ſchwachen Fibern-
bau — und giebt dem ſchwachen Geſchoͤpfe
Romanen in die Hand, die die Empfin-
dung auf’s hoͤchſte ſpannen, und den Juͤng-

ling
H 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0127" n="115"/><fw place="top" type="header">Scheingru&#x0364;nde fu&#x0364;r den Selb&#x017F;tmord.</fw><lb/>
die Reitzbarkeit des Nerven&#x017F;y&#x017F;tems und &#x017F;ein<lb/>
Einfluß auf das &#x017F;ittliche Betragen der Men-<lb/>
&#x017F;chen auch mit in An&#x017F;chlag gebracht werden,<lb/>
wenn man die Sittlichkeit ihrer Handlun-<lb/>
gen, und die Grade der&#x017F;elben genau be&#x017F;tim-<lb/>
men wollte, oder ko&#x0364;nnte. Allein man hat<lb/>
deshalb noch keinen Beruf, die Reitzbarkeit<lb/>
der Nerven zur Decke zu machen, unter der<lb/>
die Leiden&#x017F;chaften ihre fu&#x0364;rchterlichen Griffe<lb/>
gar bequem verbergen ko&#x0364;nnen. Und da<lb/>
&#x017F;toße ich weiter auf eine Lieblingsthorheit un-<lb/>
&#x017F;erer hochgeru&#x0364;hmten Zeitweisheit, na&#x0364;mlich:<lb/><hi rendition="#et"><hi rendition="#fr">&#x201E;Man &#x017F;chreibt auf einer Seite die er&#x017F;ten<lb/>
Aus&#x017F;chweifungen dem &#x017F;chwachen Fibern-<lb/>
bau auf die Rechnung, und thut auf<lb/>
der andern zu gleicher Zeit alles Aeu&#x017F;-<lb/>
&#x017F;er&#x017F;te, um die &#x017F;chwa&#x0364;chliche, leichtbe-<lb/>
wegliche, reitzbare Fiber nur noch<lb/>
&#x017F;chwa&#x0364;chlicher, leichtbeweglicher, im-<lb/>
mer reitzbarer zu machen.&#x201C;</hi></hi></p><lb/>
          <p>Man &#x017F;pricht vom &#x017F;chwachen Fibern-<lb/>
bau &#x2014; und giebt dem &#x017F;chwachen Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe<lb/><hi rendition="#fr">Romanen</hi> in die Hand, die die Empfin-<lb/>
dung auf&#x2019;s ho&#x0364;ch&#x017F;te &#x017F;pannen, und den Ju&#x0364;ng-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 2</fw><fw place="bottom" type="catch">ling</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[115/0127] Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord. die Reitzbarkeit des Nervenſyſtems und ſein Einfluß auf das ſittliche Betragen der Men- ſchen auch mit in Anſchlag gebracht werden, wenn man die Sittlichkeit ihrer Handlun- gen, und die Grade derſelben genau beſtim- men wollte, oder koͤnnte. Allein man hat deshalb noch keinen Beruf, die Reitzbarkeit der Nerven zur Decke zu machen, unter der die Leidenſchaften ihre fuͤrchterlichen Griffe gar bequem verbergen koͤnnen. Und da ſtoße ich weiter auf eine Lieblingsthorheit un- ſerer hochgeruͤhmten Zeitweisheit, naͤmlich: „Man ſchreibt auf einer Seite die erſten Ausſchweifungen dem ſchwachen Fibern- bau auf die Rechnung, und thut auf der andern zu gleicher Zeit alles Aeuſ- ſerſte, um die ſchwaͤchliche, leichtbe- wegliche, reitzbare Fiber nur noch ſchwaͤchlicher, leichtbeweglicher, im- mer reitzbarer zu machen.“ Man ſpricht vom ſchwachen Fibern- bau — und giebt dem ſchwachen Geſchoͤpfe Romanen in die Hand, die die Empfin- dung auf’s hoͤchſte ſpannen, und den Juͤng- ling H 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/127
Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/127>, abgerufen am 24.04.2024.