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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

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Dritter Abschnitt.
so wenig einen Sprung geben kann, als we-
nig ihn die Naturforscher in der Körperwelt
gelten lassen, so bebe zurück von den er-
sten Lockungen dieser Mörderinnen.
Der
Schwelger, der sich gestern hingerichtet,
dachte vor zwanzig Jahren wohl nicht an
den Selbstmord, ob er gleich sein Vermö-
gen je länger je mehr zusammenschmelzen
sah -- dachte nicht an den Selbstmord, als
er die ersten tausend Thaler gegen fünf Pro-
zente aufnahm. Der bloße Gedanke an
den Tod war ihm unerträglich: es konnte
ihm also der Gedanke an Selbsttödtung
schon gar nicht zu Sinne kommen. Aber
als nach mehreren Jahren Schulden auf
Schulden gehäufet wurden; als Armuth
und Schande und Fluch ihn mit vereinigter

Macht
ängstlichsten Sorgen verursacht hatte, wurde
er nach Berlin geschickt. Hier betrug er sich
eine Zeitlang gut, alsdann fieng er wieder
an, auszuschweifen, schlich sich auch einmal
zu Nachts aus dem Hause weg, worinn er in
Pension war, und gieng in ein H... haus.
Als er hier alles zugesetzt hatte, entlehnte er
eine Pistole, kaufte Pulver und Schrott, und
gieng in die Hasenheide, um sich zu erschies-
sen. Er saß auf der Erde, hatte das Pul-

Dritter Abſchnitt.
ſo wenig einen Sprung geben kann, als we-
nig ihn die Naturforſcher in der Koͤrperwelt
gelten laſſen, ſo bebe zuruͤck von den er-
ſten Lockungen dieſer Moͤrderinnen.
Der
Schwelger, der ſich geſtern hingerichtet,
dachte vor zwanzig Jahren wohl nicht an
den Selbſtmord, ob er gleich ſein Vermoͤ-
gen je laͤnger je mehr zuſammenſchmelzen
ſah — dachte nicht an den Selbſtmord, als
er die erſten tauſend Thaler gegen fuͤnf Pro-
zente aufnahm. Der bloße Gedanke an
den Tod war ihm unertraͤglich: es konnte
ihm alſo der Gedanke an Selbſttoͤdtung
ſchon gar nicht zu Sinne kommen. Aber
als nach mehreren Jahren Schulden auf
Schulden gehaͤufet wurden; als Armuth
und Schande und Fluch ihn mit vereinigter

Macht
aͤngſtlichſten Sorgen verurſacht hatte, wurde
er nach Berlin geſchickt. Hier betrug er ſich
eine Zeitlang gut, alsdann fieng er wieder
an, auszuſchweifen, ſchlich ſich auch einmal
zu Nachts aus dem Hauſe weg, worinn er in
Penſion war, und gieng in ein H… haus.
Als er hier alles zugeſetzt hatte, entlehnte er
eine Piſtole, kaufte Pulver und Schrott, und
gieng in die Haſenheide, um ſich zu erſchieſ-
ſen. Er ſaß auf der Erde, hatte das Pul-
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[154/0166] Dritter Abſchnitt. ſo wenig einen Sprung geben kann, als we- nig ihn die Naturforſcher in der Koͤrperwelt gelten laſſen, ſo bebe zuruͤck von den er- ſten Lockungen dieſer Moͤrderinnen. Der Schwelger, der ſich geſtern hingerichtet, dachte vor zwanzig Jahren wohl nicht an den Selbſtmord, ob er gleich ſein Vermoͤ- gen je laͤnger je mehr zuſammenſchmelzen ſah — dachte nicht an den Selbſtmord, als er die erſten tauſend Thaler gegen fuͤnf Pro- zente aufnahm. Der bloße Gedanke an den Tod war ihm unertraͤglich: es konnte ihm alſo der Gedanke an Selbſttoͤdtung ſchon gar nicht zu Sinne kommen. Aber als nach mehreren Jahren Schulden auf Schulden gehaͤufet wurden; als Armuth und Schande und Fluch ihn mit vereinigter Macht (z) (z) aͤngſtlichſten Sorgen verurſacht hatte, wurde er nach Berlin geſchickt. Hier betrug er ſich eine Zeitlang gut, alsdann fieng er wieder an, auszuſchweifen, ſchlich ſich auch einmal zu Nachts aus dem Hauſe weg, worinn er in Penſion war, und gieng in ein H… haus. Als er hier alles zugeſetzt hatte, entlehnte er eine Piſtole, kaufte Pulver und Schrott, und gieng in die Haſenheide, um ſich zu erſchieſ- ſen. Er ſaß auf der Erde, hatte das Pul-

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/166>, abgerufen am 23.04.2024.