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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

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Erster Abschnitt.
verwickelt sind, so stimmen sie dennoch ge-
wöhnlicher Weise in dem Gesetze der Selbster-
haltung überein. Und wenn sie sich auch
darinn entzweyen, so ist es immer nur die
Sinnlichkeit, oder wenigst eine irrige, ver-
worrene Vorstellung, die den Erhaltungs-
trieb selbstmörderisch überwältiget, und die
Last des Lebens unberufen wegwirft: wie die
gesunde Vernunft. Diese ruft immer mit
Macht entgegen:

(a)

"Unter-
(a) Soll ihn die Vernunft anrathen; so
muß uns eine kalte Ueberlegung versichern,
daß alle Güter dieser Erde für uns auf ewig
verlohren seyn werden; so muß es wenigstens
höchst wahrscheinlich seyn, daß weder Ueber-
legung noch Zeit vermögend seyn werden, ei-
nen quälenden Eindruck zu überwältigen. Wir
müssen den schwarzen Dunst, der aus dem
Schlamme der Leidenschaft aufsteigt, zer-
streuet, und die Gegenstände lauter, und un-
gebrochen betrachtet haben. Und dennoch
soll uns das Leben eckeln? Dennoch sollen
wir mehr Trübsal, als Gutes vor Augen se-
hen? Welcher von allen Selbmördern war
in solchen Umständen? Oder welcher unselige
Sterbliche wird je in solchen Drangsalen seuf-
zen? -- --
Wenn du je geliebt hast, Euphranor!
so versetze dich ganz in das Elend dieser Ver-
zweifel-

Erſter Abſchnitt.
verwickelt ſind, ſo ſtimmen ſie dennoch ge-
woͤhnlicher Weiſe in dem Geſetze der Selbſter-
haltung uͤberein. Und wenn ſie ſich auch
darinn entzweyen, ſo iſt es immer nur die
Sinnlichkeit, oder wenigſt eine irrige, ver-
worrene Vorſtellung, die den Erhaltungs-
trieb ſelbſtmoͤrderiſch uͤberwaͤltiget, und die
Laſt des Lebens unberufen wegwirft: wie die
geſunde Vernunft. Dieſe ruft immer mit
Macht entgegen:

(a)

„Unter-
(a) Soll ihn die Vernunft anrathen; ſo
muß uns eine kalte Ueberlegung verſichern,
daß alle Guͤter dieſer Erde fuͤr uns auf ewig
verlohren ſeyn werden; ſo muß es wenigſtens
hoͤchſt wahrſcheinlich ſeyn, daß weder Ueber-
legung noch Zeit vermoͤgend ſeyn werden, ei-
nen quaͤlenden Eindruck zu uͤberwaͤltigen. Wir
muͤſſen den ſchwarzen Dunſt, der aus dem
Schlamme der Leidenſchaft aufſteigt, zer-
ſtreuet, und die Gegenſtaͤnde lauter, und un-
gebrochen betrachtet haben. Und dennoch
ſoll uns das Leben eckeln? Dennoch ſollen
wir mehr Truͤbſal, als Gutes vor Augen ſe-
hen? Welcher von allen Selbmoͤrdern war
in ſolchen Umſtaͤnden? Oder welcher unſelige
Sterbliche wird je in ſolchen Drangſalen ſeuf-
zen? — —
Wenn du je geliebt haſt, Euphranor!
ſo verſetze dich ganz in das Elend dieſer Ver-
zweifel-
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[8/0020] Erſter Abſchnitt. verwickelt ſind, ſo ſtimmen ſie dennoch ge- woͤhnlicher Weiſe in dem Geſetze der Selbſter- haltung uͤberein. Und wenn ſie ſich auch darinn entzweyen, ſo iſt es immer nur die Sinnlichkeit, oder wenigſt eine irrige, ver- worrene Vorſtellung, die den Erhaltungs- trieb ſelbſtmoͤrderiſch uͤberwaͤltiget, und die Laſt des Lebens unberufen wegwirft: wie die geſunde Vernunft. Dieſe ruft immer mit Macht entgegen: „Unter- (a) (a) Soll ihn die Vernunft anrathen; ſo muß uns eine kalte Ueberlegung verſichern, daß alle Guͤter dieſer Erde fuͤr uns auf ewig verlohren ſeyn werden; ſo muß es wenigſtens hoͤchſt wahrſcheinlich ſeyn, daß weder Ueber- legung noch Zeit vermoͤgend ſeyn werden, ei- nen quaͤlenden Eindruck zu uͤberwaͤltigen. Wir muͤſſen den ſchwarzen Dunſt, der aus dem Schlamme der Leidenſchaft aufſteigt, zer- ſtreuet, und die Gegenſtaͤnde lauter, und un- gebrochen betrachtet haben. Und dennoch ſoll uns das Leben eckeln? Dennoch ſollen wir mehr Truͤbſal, als Gutes vor Augen ſe- hen? Welcher von allen Selbmoͤrdern war in ſolchen Umſtaͤnden? Oder welcher unſelige Sterbliche wird je in ſolchen Drangſalen ſeuf- zen? — — Wenn du je geliebt haſt, Euphranor! ſo verſetze dich ganz in das Elend dieſer Ver- zweifel-

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/20>, abgerufen am 29.03.2024.