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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

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Erster Abschnitt.
Willkühr zerstören darf, weil dem Staate
das bloße Beyspiel des Selbstmordes (ohne
itzt den Verlust eines einzelen Gliedes in
die Rechnung zu bringen) nicht anders als
schädlich, und das Beyspiel der aushar-
renden Geduld nicht anders als nützlich seyn
kann: indem das erste die falschen Begriffe
von Tapferkeit verbreitet, das zweyte die
wahren unterstützet. Es ist nichts gemein-
schädlichers, als wenn die Tapferkeit der
Bürger von Vertheidigung des Staates ge-
gen auswärtige Feinde, auf Verminderung
der Staatsbürger, auf Selbstzerstörung ab-
gelenket wird. Es ist nichts gemeinnützi-
gers, als wenn jeder Staatsbürger sein Le-
ben, seine Kraft, als ein Heiligthum an-
sieht, das nur zum gemeinen Besten darf
verwendet werden. Wäre in ihm (dem
Selbstmörder) die Nächstenliebe lebendig:
so würde er keine Ursache finden, an seinem
Körper Hand anzulegen, so lange es in der
Welt Elende giebt, denen er durch Vorstel-
lung, Bitte, Warnung, Hülfe, Beyspiel
nützlich seyn kann. Wäre in ihm die Ver-
wandtenliebe
lebendig, so würde er keine

Kraft

Erſter Abſchnitt.
Willkuͤhr zerſtoͤren darf, weil dem Staate
das bloße Beyſpiel des Selbſtmordes (ohne
itzt den Verluſt eines einzelen Gliedes in
die Rechnung zu bringen) nicht anders als
ſchaͤdlich, und das Beyſpiel der aushar-
renden Geduld nicht anders als nuͤtzlich ſeyn
kann: indem das erſte die falſchen Begriffe
von Tapferkeit verbreitet, das zweyte die
wahren unterſtuͤtzet. Es iſt nichts gemein-
ſchaͤdlichers, als wenn die Tapferkeit der
Buͤrger von Vertheidigung des Staates ge-
gen auswaͤrtige Feinde, auf Verminderung
der Staatsbuͤrger, auf Selbſtzerſtoͤrung ab-
gelenket wird. Es iſt nichts gemeinnuͤtzi-
gers, als wenn jeder Staatsbuͤrger ſein Le-
ben, ſeine Kraft, als ein Heiligthum an-
ſieht, das nur zum gemeinen Beſten darf
verwendet werden. Waͤre in ihm (dem
Selbſtmoͤrder) die Naͤchſtenliebe lebendig:
ſo wuͤrde er keine Urſache finden, an ſeinem
Koͤrper Hand anzulegen, ſo lange es in der
Welt Elende giebt, denen er durch Vorſtel-
lung, Bitte, Warnung, Huͤlfe, Beyſpiel
nuͤtzlich ſeyn kann. Waͤre in ihm die Ver-
wandtenliebe
lebendig, ſo wuͤrde er keine

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[44/0056] Erſter Abſchnitt. Willkuͤhr zerſtoͤren darf, weil dem Staate das bloße Beyſpiel des Selbſtmordes (ohne itzt den Verluſt eines einzelen Gliedes in die Rechnung zu bringen) nicht anders als ſchaͤdlich, und das Beyſpiel der aushar- renden Geduld nicht anders als nuͤtzlich ſeyn kann: indem das erſte die falſchen Begriffe von Tapferkeit verbreitet, das zweyte die wahren unterſtuͤtzet. Es iſt nichts gemein- ſchaͤdlichers, als wenn die Tapferkeit der Buͤrger von Vertheidigung des Staates ge- gen auswaͤrtige Feinde, auf Verminderung der Staatsbuͤrger, auf Selbſtzerſtoͤrung ab- gelenket wird. Es iſt nichts gemeinnuͤtzi- gers, als wenn jeder Staatsbuͤrger ſein Le- ben, ſeine Kraft, als ein Heiligthum an- ſieht, das nur zum gemeinen Beſten darf verwendet werden. Waͤre in ihm (dem Selbſtmoͤrder) die Naͤchſtenliebe lebendig: ſo wuͤrde er keine Urſache finden, an ſeinem Koͤrper Hand anzulegen, ſo lange es in der Welt Elende giebt, denen er durch Vorſtel- lung, Bitte, Warnung, Huͤlfe, Beyſpiel nuͤtzlich ſeyn kann. Waͤre in ihm die Ver- wandtenliebe lebendig, ſo wuͤrde er keine Kraft

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/56>, abgerufen am 18.04.2024.