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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

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Erster Abschnitt.

Es ist bekannt, daß sich von dem,
was Menschenleben heißt, zweyerley Vor-
stellungsarten
denken lassen. Eine, die ich
die menschenfeindliche nennen möchte,
macht dieses Leben zu einem Ganzen, das
seinen Anfang im Mutterleibe, sein Ende
im Grabe hat, daß also hinter dem Grabe
kein Lebensfunke mehr glimmt. Die ande-
re sieht dieses Leben als einen kleinen Ab-
schnitt einer Linie an, deren erstes Theil-
chen, derselbe kleine Abschnitt nämlich, vom
Punkte der Empfängniß im Mutterleibe, bis
zum Grabe reicht, deren zweyter Theil aber
mit dem Ende des ersten anfängt, und un-
aufhörlich fortläuft. Diese Vorstellungsart
(die ich die menschenfreundliche nenne, weil
das kranke Menschenherz einen Balsam dar-
an findet, dessen es bedarf, und den es sonst
nirgends finden kann) denkt noch dieses zu
ihrer Linie hinzu, daß sich aus dem Lebens-
faden, der vom ersten Puncte des Seyns
bis zum Grabe reicht, der andere, welcher
vom Grabe anfängt, und Ewigkeiten durch-
reicht, herausspinne.

Es
Erſter Abſchnitt.

Es iſt bekannt, daß ſich von dem,
was Menſchenleben heißt, zweyerley Vor-
ſtellungsarten
denken laſſen. Eine, die ich
die menſchenfeindliche nennen moͤchte,
macht dieſes Leben zu einem Ganzen, das
ſeinen Anfang im Mutterleibe, ſein Ende
im Grabe hat, daß alſo hinter dem Grabe
kein Lebensfunke mehr glimmt. Die ande-
re ſieht dieſes Leben als einen kleinen Ab-
ſchnitt einer Linie an, deren erſtes Theil-
chen, derſelbe kleine Abſchnitt naͤmlich, vom
Punkte der Empfaͤngniß im Mutterleibe, bis
zum Grabe reicht, deren zweyter Theil aber
mit dem Ende des erſten anfaͤngt, und un-
aufhoͤrlich fortlaͤuft. Dieſe Vorſtellungsart
(die ich die menſchenfreundliche nenne, weil
das kranke Menſchenherz einen Balſam dar-
an findet, deſſen es bedarf, und den es ſonſt
nirgends finden kann) denkt noch dieſes zu
ihrer Linie hinzu, daß ſich aus dem Lebens-
faden, der vom erſten Puncte des Seyns
bis zum Grabe reicht, der andere, welcher
vom Grabe anfaͤngt, und Ewigkeiten durch-
reicht, herausſpinne.

Es
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[46/0058] Erſter Abſchnitt. Es iſt bekannt, daß ſich von dem, was Menſchenleben heißt, zweyerley Vor- ſtellungsarten denken laſſen. Eine, die ich die menſchenfeindliche nennen moͤchte, macht dieſes Leben zu einem Ganzen, das ſeinen Anfang im Mutterleibe, ſein Ende im Grabe hat, daß alſo hinter dem Grabe kein Lebensfunke mehr glimmt. Die ande- re ſieht dieſes Leben als einen kleinen Ab- ſchnitt einer Linie an, deren erſtes Theil- chen, derſelbe kleine Abſchnitt naͤmlich, vom Punkte der Empfaͤngniß im Mutterleibe, bis zum Grabe reicht, deren zweyter Theil aber mit dem Ende des erſten anfaͤngt, und un- aufhoͤrlich fortlaͤuft. Dieſe Vorſtellungsart (die ich die menſchenfreundliche nenne, weil das kranke Menſchenherz einen Balſam dar- an findet, deſſen es bedarf, und den es ſonſt nirgends finden kann) denkt noch dieſes zu ihrer Linie hinzu, daß ſich aus dem Lebens- faden, der vom erſten Puncte des Seyns bis zum Grabe reicht, der andere, welcher vom Grabe anfaͤngt, und Ewigkeiten durch- reicht, herausſpinne. Es

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/58>, abgerufen am 24.04.2024.