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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

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Erster Abschnitt.
also Cajus sich selbst einen Dienst thun, den
ihm kein anderer erweisen darf? Du sagst:
das Gewicht seiner Gründe, die Last seiner
Leiden kann kein anderer ganz so fühlen, wie
er. Mithin darf ihn kein anderer, er aber
sich selbst morden. Und ich sage: keiner
wird durch das überspannte Gefühl seiner
Leiden, seiner Lasten so ganz des gesunden
Verstandes beraubt, wie er: und daraus,
daß nur der Leidende das ganze Maas seines
Leidens fühlen kann, läßt sich nur erklären,
wie es zugehe, daß einer sein Selbstmörder
werden könne, aber nicht, daß er es mit
Recht werde.

4. Ein Forscher in den Annalen des Men-
schengeschlechtes hat zur Ehre der Tugend die
Anmerkung gemacht, daß der Selbstmord
zu Rom nie gemeiner gewesen, als unter Ti-
berius und Nero, wo Unzucht, Schwelgerey,
Tyranney den höchsten Gipfel erreichet hat-
ten. -- Selbstmord -- das ist wider dich!

Irreligion, Weichlichkeit, und was ich
nicht deutsch nennen mag -- vaga libido,
Ueberspannung der Empfindung allerley Art,
Druck, Verkaufung des Rechtes an den

Meist-

Erſter Abſchnitt.
alſo Cajus ſich ſelbſt einen Dienſt thun, den
ihm kein anderer erweiſen darf? Du ſagſt:
das Gewicht ſeiner Gruͤnde, die Laſt ſeiner
Leiden kann kein anderer ganz ſo fuͤhlen, wie
er. Mithin darf ihn kein anderer, er aber
ſich ſelbſt morden. Und ich ſage: keiner
wird durch das uͤberſpannte Gefuͤhl ſeiner
Leiden, ſeiner Laſten ſo ganz des geſunden
Verſtandes beraubt, wie er: und daraus,
daß nur der Leidende das ganze Maas ſeines
Leidens fuͤhlen kann, laͤßt ſich nur erklaͤren,
wie es zugehe, daß einer ſein Selbſtmoͤrder
werden koͤnne, aber nicht, daß er es mit
Recht werde.

4. Ein Forſcher in den Annalen des Men-
ſchengeſchlechtes hat zur Ehre der Tugend die
Anmerkung gemacht, daß der Selbſtmord
zu Rom nie gemeiner geweſen, als unter Ti-
berius und Nero, wo Unzucht, Schwelgerey,
Tyranney den hoͤchſten Gipfel erreichet hat-
ten. — Selbſtmord — das iſt wider dich!

Irreligion, Weichlichkeit, und was ich
nicht deutſch nennen mag — vaga libido,
Ueberſpannung der Empfindung allerley Art,
Druck, Verkaufung des Rechtes an den

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[78/0090] Erſter Abſchnitt. alſo Cajus ſich ſelbſt einen Dienſt thun, den ihm kein anderer erweiſen darf? Du ſagſt: das Gewicht ſeiner Gruͤnde, die Laſt ſeiner Leiden kann kein anderer ganz ſo fuͤhlen, wie er. Mithin darf ihn kein anderer, er aber ſich ſelbſt morden. Und ich ſage: keiner wird durch das uͤberſpannte Gefuͤhl ſeiner Leiden, ſeiner Laſten ſo ganz des geſunden Verſtandes beraubt, wie er: und daraus, daß nur der Leidende das ganze Maas ſeines Leidens fuͤhlen kann, laͤßt ſich nur erklaͤren, wie es zugehe, daß einer ſein Selbſtmoͤrder werden koͤnne, aber nicht, daß er es mit Recht werde. 4. Ein Forſcher in den Annalen des Men- ſchengeſchlechtes hat zur Ehre der Tugend die Anmerkung gemacht, daß der Selbſtmord zu Rom nie gemeiner geweſen, als unter Ti- berius und Nero, wo Unzucht, Schwelgerey, Tyranney den hoͤchſten Gipfel erreichet hat- ten. — Selbſtmord — das iſt wider dich! Irreligion, Weichlichkeit, und was ich nicht deutſch nennen mag — vaga libido, Ueberſpannung der Empfindung allerley Art, Druck, Verkaufung des Rechtes an den Meiſt-

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/90>, abgerufen am 28.03.2024.