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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Nur da, wo die Nothwendigkeit das Uebele verhängt, bemerkten
wir, könne sie mit der Freiheit wahrhaft im Streit erscheinen.

Aber eben von welcher Art dieses Uebel seyn müsse, um der Tra-
gödie angemessen zu seyn, ist die Frage. Bloß äußeres Unglück kann
nicht dasjenige seyn, welches den wahrhaft tragischen Widerstreit hervor-
bringt. Denn daß die Person über äußeres Unglück sich erhebe, fordern
wir schon von selbst, und sie wird uns nur verächtlich, wenn sie es
nicht vermag. Der Held, der wie Ulyß auf der Heimkehr eine Kette
von Unglücksfällen und vielfältiges Ungemach bekämpft, erweckt unsre
Bewunderung, und wir folgen ihm mit Lust, aber er hat für uns kein
tragisches Interesse, weil das Widerstrebende durch eine gleiche Kraft,
nämlich durch physische Stärke oder durch Verstand und Klugheit be-
zwungen werden kann. Aber selbst Unglück, wogegen keine menschliche
Hülfe möglich ist, z. B. unheilbare Krankheit, Verlust der Güter und
dergl., hat, sofern es bloß physisch ist, kein tragisches Interesse; denn
es ist eine nur noch untergeordnete und nicht die Schranken des Noth-
wendigen selbst überschreitende Wirkung der Freiheit, solche Uebel, die
nicht zu ändern sind, mit Geduld zu ertragen.

Aristoteles in der Poetik 1 stellt folgende Fälle des Glückwechsels
auf: 1) daß ein gerechter Mann aus dem Zustand des Glücks in Un-
glück verfalle; er sagt sehr richtig, daß dieß weder schrecklich noch be-
mitleidenswürdig, sondern nur abscheulich und darum zum tragischen
Stoff untauglich sey; 2) daß ein Ungerechter aus widrigem Glück in
günstiges übergehe. Dieß sey am wenigsten tragisch; 3) daß ein in
hohem Grade Ungerechter oder Lasterhafter aus glücklichem Zustand in
unglücklichen versetzt werde. Diese Zusammensetzung könne zwar die
Menschenliebe berühren, aber weder Mitleid noch Schrecken hervor-
bringen. Es bliebe also nur ein mittlerer Fall übrig, nämlich daß ein
Solcher Gegenstand der Tragödie sey, welcher weder durch Tugend
und Gerechtigkeit vorzüglich ausgezeichnet, noch auch durch Laster und
Verbrechen ins Unglück falle, sondern durch einen Irrthum, und daß

1 Cap. XIII.

Nur da, wo die Nothwendigkeit das Uebele verhängt, bemerkten
wir, könne ſie mit der Freiheit wahrhaft im Streit erſcheinen.

Aber eben von welcher Art dieſes Uebel ſeyn müſſe, um der Tra-
gödie angemeſſen zu ſeyn, iſt die Frage. Bloß äußeres Unglück kann
nicht dasjenige ſeyn, welches den wahrhaft tragiſchen Widerſtreit hervor-
bringt. Denn daß die Perſon über äußeres Unglück ſich erhebe, fordern
wir ſchon von ſelbſt, und ſie wird uns nur verächtlich, wenn ſie es
nicht vermag. Der Held, der wie Ulyß auf der Heimkehr eine Kette
von Unglücksfällen und vielfältiges Ungemach bekämpft, erweckt unſre
Bewunderung, und wir folgen ihm mit Luſt, aber er hat für uns kein
tragiſches Intereſſe, weil das Widerſtrebende durch eine gleiche Kraft,
nämlich durch phyſiſche Stärke oder durch Verſtand und Klugheit be-
zwungen werden kann. Aber ſelbſt Unglück, wogegen keine menſchliche
Hülfe möglich iſt, z. B. unheilbare Krankheit, Verluſt der Güter und
dergl., hat, ſofern es bloß phyſiſch iſt, kein tragiſches Intereſſe; denn
es iſt eine nur noch untergeordnete und nicht die Schranken des Noth-
wendigen ſelbſt überſchreitende Wirkung der Freiheit, ſolche Uebel, die
nicht zu ändern ſind, mit Geduld zu ertragen.

Ariſtoteles in der Poetik 1 ſtellt folgende Fälle des Glückwechſels
auf: 1) daß ein gerechter Mann aus dem Zuſtand des Glücks in Un-
glück verfalle; er ſagt ſehr richtig, daß dieß weder ſchrecklich noch be-
mitleidenswürdig, ſondern nur abſcheulich und darum zum tragiſchen
Stoff untauglich ſey; 2) daß ein Ungerechter aus widrigem Glück in
günſtiges übergehe. Dieß ſey am wenigſten tragiſch; 3) daß ein in
hohem Grade Ungerechter oder Laſterhafter aus glücklichem Zuſtand in
unglücklichen verſetzt werde. Dieſe Zuſammenſetzung könne zwar die
Menſchenliebe berühren, aber weder Mitleid noch Schrecken hervor-
bringen. Es bliebe alſo nur ein mittlerer Fall übrig, nämlich daß ein
Solcher Gegenſtand der Tragödie ſey, welcher weder durch Tugend
und Gerechtigkeit vorzüglich ausgezeichnet, noch auch durch Laſter und
Verbrechen ins Unglück falle, ſondern durch einen Irrthum, und daß

1 Cap. XIII.
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[694/0370] Nur da, wo die Nothwendigkeit das Uebele verhängt, bemerkten wir, könne ſie mit der Freiheit wahrhaft im Streit erſcheinen. Aber eben von welcher Art dieſes Uebel ſeyn müſſe, um der Tra- gödie angemeſſen zu ſeyn, iſt die Frage. Bloß äußeres Unglück kann nicht dasjenige ſeyn, welches den wahrhaft tragiſchen Widerſtreit hervor- bringt. Denn daß die Perſon über äußeres Unglück ſich erhebe, fordern wir ſchon von ſelbſt, und ſie wird uns nur verächtlich, wenn ſie es nicht vermag. Der Held, der wie Ulyß auf der Heimkehr eine Kette von Unglücksfällen und vielfältiges Ungemach bekämpft, erweckt unſre Bewunderung, und wir folgen ihm mit Luſt, aber er hat für uns kein tragiſches Intereſſe, weil das Widerſtrebende durch eine gleiche Kraft, nämlich durch phyſiſche Stärke oder durch Verſtand und Klugheit be- zwungen werden kann. Aber ſelbſt Unglück, wogegen keine menſchliche Hülfe möglich iſt, z. B. unheilbare Krankheit, Verluſt der Güter und dergl., hat, ſofern es bloß phyſiſch iſt, kein tragiſches Intereſſe; denn es iſt eine nur noch untergeordnete und nicht die Schranken des Noth- wendigen ſelbſt überſchreitende Wirkung der Freiheit, ſolche Uebel, die nicht zu ändern ſind, mit Geduld zu ertragen. Ariſtoteles in der Poetik 1 ſtellt folgende Fälle des Glückwechſels auf: 1) daß ein gerechter Mann aus dem Zuſtand des Glücks in Un- glück verfalle; er ſagt ſehr richtig, daß dieß weder ſchrecklich noch be- mitleidenswürdig, ſondern nur abſcheulich und darum zum tragiſchen Stoff untauglich ſey; 2) daß ein Ungerechter aus widrigem Glück in günſtiges übergehe. Dieß ſey am wenigſten tragiſch; 3) daß ein in hohem Grade Ungerechter oder Laſterhafter aus glücklichem Zuſtand in unglücklichen verſetzt werde. Dieſe Zuſammenſetzung könne zwar die Menſchenliebe berühren, aber weder Mitleid noch Schrecken hervor- bringen. Es bliebe alſo nur ein mittlerer Fall übrig, nämlich daß ein Solcher Gegenſtand der Tragödie ſey, welcher weder durch Tugend und Gerechtigkeit vorzüglich ausgezeichnet, noch auch durch Laſter und Verbrechen ins Unglück falle, ſondern durch einen Irrthum, und daß 1 Cap. XIII.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 694. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/370>, abgerufen am 19.04.2024.