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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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die alten Stoffe nicht mehr zu; er mußte also die Mythen auf eine
oft frevelhafte Weise verändern, und aus diesem Grunde auch die Pro-
logen in den Schauspielen einführen, welche ein anderer Beweis der in
ihnen gesunkenen tragischen Kunst sind, was auch Lessing zur Empfeh-
lung derselben sagen mag. Endlich ist er nie so sehr darum bekümmert,
die Handlung im Gemüth als sie vielmehr nur äußerlich zu schließen,
und man begreift eben daraus, sowie aus den stärkeren Mitteln mate-
riellen Reizes, die er anwandte, was Aristoteles sagt, daß er auf die
Zuschauer die größte Wirkung gemacht habe. In dem Bestreben, dem
groben Sinne zu schmeicheln, und diesen gleichsam zu beruhigen, sinkt
er nicht selten zu den gemeinsten Motiven herab, die etwa ein moderner
Dichter und zwar von den schlechtesten brauchen könnte, z. B. daß er
die Electra zuletzt den -- Pylades heirathen läßt.

Im Allgemeinen kann man also behaupten, daß Euripides vor-
züglich nur groß ist in der Darstellung der Leidenschaft, nicht aber
weder in der harten aber ruhigen Schönheit, welche Aeschylos, noch in
der mit Güte gepaarten und zur Göttlichkeit geläuterten Schönheit,
welche Sophokles eigenthümlich ist. Vergleichen wir nämlich die beiden
größten tragischen Dichter untereinander, so gehn die Werke des Aeschylos
den plastischen Werken des hohen und strengen Styls der Kunst, wie
die des Sophokles den plastischen Werken des schönen Styls, der vor
Polykleitos und Phidias anfing, parallel. Nicht als ob nicht im Aeschylos
durchaus die sittliche Erhabenheit durchschiene, wenn sie auch nicht in
allen Personen seiner Werke so einheimisch wohnt, als in denen des
Sophokles; nicht als ob nicht diese Stimmung in der Darstellung auch
da erkennbar wäre, wo er nur große Verbrechen und schreckliche Cha-
raktere darstellt, wie den heimtückischen Mord des Agamemnon und den
Charakter der Klytämnestra, sondern weil dieser Keim der Sittlichkeit
hier noch in eine härtere Hülle verschlossen und herb und unzugänglicher
ist, statt daß bei Sophokles die sittliche Güte mit der Schönheit zu-
sammenfließt, und dadurch das höchste Bild der Göttlichkeit entsteht.

Wenn ferner Aeschylos in strenger Begrenzung und Abgeschlossenheit
jedes seiner Werke und in diesem wieder seine Gestalten hinstellt, so hat

die alten Stoffe nicht mehr zu; er mußte alſo die Mythen auf eine
oft frevelhafte Weiſe verändern, und aus dieſem Grunde auch die Pro-
logen in den Schauſpielen einführen, welche ein anderer Beweis der in
ihnen geſunkenen tragiſchen Kunſt ſind, was auch Leſſing zur Empfeh-
lung derſelben ſagen mag. Endlich iſt er nie ſo ſehr darum bekümmert,
die Handlung im Gemüth als ſie vielmehr nur äußerlich zu ſchließen,
und man begreift eben daraus, ſowie aus den ſtärkeren Mitteln mate-
riellen Reizes, die er anwandte, was Ariſtoteles ſagt, daß er auf die
Zuſchauer die größte Wirkung gemacht habe. In dem Beſtreben, dem
groben Sinne zu ſchmeicheln, und dieſen gleichſam zu beruhigen, ſinkt
er nicht ſelten zu den gemeinſten Motiven herab, die etwa ein moderner
Dichter und zwar von den ſchlechteſten brauchen könnte, z. B. daß er
die Electra zuletzt den — Pylades heirathen läßt.

Im Allgemeinen kann man alſo behaupten, daß Euripides vor-
züglich nur groß iſt in der Darſtellung der Leidenſchaft, nicht aber
weder in der harten aber ruhigen Schönheit, welche Aeſchylos, noch in
der mit Güte gepaarten und zur Göttlichkeit geläuterten Schönheit,
welche Sophokles eigenthümlich iſt. Vergleichen wir nämlich die beiden
größten tragiſchen Dichter untereinander, ſo gehn die Werke des Aeſchylos
den plaſtiſchen Werken des hohen und ſtrengen Styls der Kunſt, wie
die des Sophokles den plaſtiſchen Werken des ſchönen Styls, der vor
Polykleitos und Phidias anfing, parallel. Nicht als ob nicht im Aeſchylos
durchaus die ſittliche Erhabenheit durchſchiene, wenn ſie auch nicht in
allen Perſonen ſeiner Werke ſo einheimiſch wohnt, als in denen des
Sophokles; nicht als ob nicht dieſe Stimmung in der Darſtellung auch
da erkennbar wäre, wo er nur große Verbrechen und ſchreckliche Cha-
raktere darſtellt, wie den heimtückiſchen Mord des Agamemnon und den
Charakter der Klytämneſtra, ſondern weil dieſer Keim der Sittlichkeit
hier noch in eine härtere Hülle verſchloſſen und herb und unzugänglicher
iſt, ſtatt daß bei Sophokles die ſittliche Güte mit der Schönheit zu-
ſammenfließt, und dadurch das höchſte Bild der Göttlichkeit entſteht.

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jedes ſeiner Werke und in dieſem wieder ſeine Geſtalten hinſtellt, ſo hat

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[710/0386] die alten Stoffe nicht mehr zu; er mußte alſo die Mythen auf eine oft frevelhafte Weiſe verändern, und aus dieſem Grunde auch die Pro- logen in den Schauſpielen einführen, welche ein anderer Beweis der in ihnen geſunkenen tragiſchen Kunſt ſind, was auch Leſſing zur Empfeh- lung derſelben ſagen mag. Endlich iſt er nie ſo ſehr darum bekümmert, die Handlung im Gemüth als ſie vielmehr nur äußerlich zu ſchließen, und man begreift eben daraus, ſowie aus den ſtärkeren Mitteln mate- riellen Reizes, die er anwandte, was Ariſtoteles ſagt, daß er auf die Zuſchauer die größte Wirkung gemacht habe. In dem Beſtreben, dem groben Sinne zu ſchmeicheln, und dieſen gleichſam zu beruhigen, ſinkt er nicht ſelten zu den gemeinſten Motiven herab, die etwa ein moderner Dichter und zwar von den ſchlechteſten brauchen könnte, z. B. daß er die Electra zuletzt den — Pylades heirathen läßt. Im Allgemeinen kann man alſo behaupten, daß Euripides vor- züglich nur groß iſt in der Darſtellung der Leidenſchaft, nicht aber weder in der harten aber ruhigen Schönheit, welche Aeſchylos, noch in der mit Güte gepaarten und zur Göttlichkeit geläuterten Schönheit, welche Sophokles eigenthümlich iſt. Vergleichen wir nämlich die beiden größten tragiſchen Dichter untereinander, ſo gehn die Werke des Aeſchylos den plaſtiſchen Werken des hohen und ſtrengen Styls der Kunſt, wie die des Sophokles den plaſtiſchen Werken des ſchönen Styls, der vor Polykleitos und Phidias anfing, parallel. Nicht als ob nicht im Aeſchylos durchaus die ſittliche Erhabenheit durchſchiene, wenn ſie auch nicht in allen Perſonen ſeiner Werke ſo einheimiſch wohnt, als in denen des Sophokles; nicht als ob nicht dieſe Stimmung in der Darſtellung auch da erkennbar wäre, wo er nur große Verbrechen und ſchreckliche Cha- raktere darſtellt, wie den heimtückiſchen Mord des Agamemnon und den Charakter der Klytämneſtra, ſondern weil dieſer Keim der Sittlichkeit hier noch in eine härtere Hülle verſchloſſen und herb und unzugänglicher iſt, ſtatt daß bei Sophokles die ſittliche Güte mit der Schönheit zu- ſammenfließt, und dadurch das höchſte Bild der Göttlichkeit entſteht. Wenn ferner Aeſchylos in ſtrenger Begrenzung und Abgeſchloſſenheit jedes ſeiner Werke und in dieſem wieder ſeine Geſtalten hinſtellt, ſo hat

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 710. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/386>, abgerufen am 16.04.2024.