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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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der zeigt, wie ein Mensch unter der Sünde seufzt, die Gestalt psc_142.002
der Mignon, Lydia -- dies die Kranken; und von den psc_142.003
Gesunden Natalie, Therese, Fräulein von Klettenberg. Mithin psc_142.004
eine vollkommen sittliche Haltung, trotzdem eine directe psc_142.005
sittliche Wirkung nicht erstrebt ist.

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3) Der Dichter wirkt gar nicht sittlich. Diesen Standpunct psc_142.007
hat z. B. Goethe theoretisch eingenommen; und viele psc_142.008
reden ihm nach, sprechen von dem moralischen Zöpfchen des psc_142.009
18. Jahrhunderts. Aber in Wahrheit hat Goethe immer psc_142.010
auf dem zweiten Standpunct gestanden. Mehr als irgend psc_142.011
ein anderer Dichter hat er sittlich geweckt, erbaut; und so psc_142.012
widerlegt seine Wirkung praktisch seine Theorie. -- Es fragt psc_142.013
sich, ob dieser dritte Standpunct überhaupt praktisch vertreten psc_142.014
ist. Dies ist der Fall in solchen Büchern, die nur amüsant psc_142.015
sein sollen, welche die Wahrheit verläugnen und der Unterhaltung psc_142.016
wegen die Welt anders darstellen, als sie ist: Lustspieldichter, psc_142.017
die bloß lachen machen wollen u. s. w. Dennoch psc_142.018
kann auch daran, soweit das Lachen gesund ist, soweit es die psc_142.019
Stirn heiter macht, entladet und rein fegt, eine indirecte psc_142.020
sittliche Wirkung hängen. Jemand, der bloß unterhalten psc_142.021
will und dazu den Stoff nimmt, wo er ihn findet, kann so psc_142.022
noch immer auf den Willen wirken.

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Aus dieser Theorie, nicht sittlich veredelnd wirken zu psc_142.024
wollen, hat sich nun aber eine eigenthümliche Consequenz psc_142.025
ergeben. Es giebt Dichter, welche dafür halten, der idealste psc_142.026
Stoff der Poesie sei der Conflict zwischen Willen und psc_142.027
Moral. Ein bestimmter Dichter bekämpft diese allgemeine psc_142.028
Moral mit der "höheren Sittlichkeit". Hier also ist ein

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sittliche Wirkung nicht erstrebt ist.

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hat z. B. Goethe theoretisch eingenommen; und viele psc_142.008
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ein anderer Dichter hat er sittlich geweckt, erbaut; und so psc_142.012
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ist. Dies ist der Fall in solchen Büchern, die nur amüsant psc_142.015
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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/158>, abgerufen am 19.04.2024.