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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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habe ich keine Vorstellung, ob sie etwa in Rollen psc_151.002
sprechend den Dialog skizziren, ob der eine das Scenarium psc_151.003
macht, der andere den Dialog. Große Kunstwerke sind auf psc_151.004
diesem Wege wohl nicht entstanden, doch gute Repertoirestücke. psc_151.005
Dieses Verfahren wissen wir für ältere Zeiten nicht nachzuweisen. psc_151.006
Mein Freund Diemer stellte zwar für Ezzos Gesang von den psc_151.007
Wundern Christi (aus dem elften Jahrhundert) eine derartige psc_151.008
Vermuthung auf, aber sie scheint mir recht unwahrscheinlich.

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b) Jndem sie einander fortsetzen: B. findet ein Werk psc_151.010
von A. und würdigt es einer Fortsetzung, sei es, daß das psc_151.011
Werk noch nicht fertig ist, sei es, daß es in sich fertig ist, psc_151.012
aber sich weiter führen läßt: es enthält etwa das Schicksal psc_151.013
eines Helden, der noch weiter gelebt haben muß, aber hier psc_151.014
nicht mehr vorkommt. So wurde im Mittelalter Gottfrieds psc_151.015
"Tristan" fortgesetzt, ebenso Wolframs "Willehalm"; hier psc_151.016
waren die Dichter wohl gestorben. Wenn aber Wolframs "Willehalm" psc_151.017
nach vorn fortgesetzt wird, eine Vorgeschichte erhält, so psc_151.018
beruht dies darauf, daß man die früheren Schicksale des psc_151.019
Helden wissen wollte. So ist Schillers "Dreißigjähriger Krieg" psc_151.020
nach vorn fortgesetzt worden; ferner ist sein "Demetrius" zu psc_151.021
Ende gebracht worden. So werden die weiteren Schicksale psc_151.022
poetischer Gestalten geschildert: "Don Juans Ende" von Paul psc_151.023
Heyse; Goethe hat die "Zauberflöte" fortgesetzt; sein "Bürgergeneral" psc_151.024
folgt älteren Stücken. Hier liegen also sichere Fälle, psc_151.025
auch aus früherer Zeit, vor. Nach diesen Erfahrungen hat psc_151.026
dann z. B. Müllenhoff für den "Wolfdietrich", wo ein solches psc_151.027
Zusammenarbeiten nicht direct bezeugt ist, dasselbe aus stilistischen psc_151.028
Gründen angenommen.

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/167>, abgerufen am 25.04.2024.