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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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Aber ganz ähnliche Erscheinungen zeigt

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3. Unterbrochenes Arbeiten.
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Auch wenn ein und derselbe Dichter nicht bei der Arbeit psc_157.004
bleibt, sondern seine Arbeit fallen läßt und wieder aufnimmt, psc_157.005
vielleicht nach Jahren, werden sich Widersprüche einschleichen, psc_157.006
wo er sich nicht genau überwachen konnte, und es werden sich psc_157.007
wirklich Stilverschiedenheiten einfinden, wenn sich der Dichter psc_157.008
nicht ganz hineinzuversetzen weiß. Denn der Dichter ändert psc_157.009
in der Regel ja fortwährend seinen Stil; ein ganz constanter psc_157.010
Stil ist bis jetzt wenigstens mit Sicherheit noch nirgends psc_157.011
beobachtet worden. Hierüber vgl. Müllenhoff, Zeitschrift für psc_157.012
deutsches Alterthum 23, 114 f.; Aufsätze über Goethe S. 294 f.

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Ein solches Werk gelangt mithin in der Regel nicht zu psc_157.014
einer völligen durchgearbeiteten und tadellosen Einheit; es trägt psc_157.015
die Spuren der allmäligen Entstehung deutlich an der Stirn. psc_157.016
Das lehrreichste Beispiel hierfür ist Goethes "Faust"; aber psc_157.017
auch andere zeigen die Spuren allmäliger Entstehung. So psc_157.018
der "Wilhelm Meister": als Charlotte Schiller das Manuscript psc_157.019
des Romans in die Hand bekam, da merkte sie dies psc_157.020
daran, daß in verschiedenen Theilen dieselben Personen verschiedene psc_157.021
Namen führten; so heißt Lothario mit dem für psc_157.022
einen typisch=deutschen Edelmann sonderbaren italienischen psc_157.023
Namen im ersten Druck das erste Mal noch Lothar. Die psc_157.024
"Wanderjahre" vollends weichen im Stil total ab, so daß man, psc_157.025
wenn man nicht das Gegentheil wüßte, ganz gewiß auf verschiedene psc_157.026
Autoren schließen würde. Ja selbst in einem Werk psc_157.027
wie Schillers "Wallenstein" finden sich über das Verwandtschaftsverhältniß

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  Aber ganz ähnliche Erscheinungen zeigt

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3. Unterbrochenes Arbeiten.
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  Auch wenn ein und derselbe Dichter nicht bei der Arbeit psc_157.004
bleibt, sondern seine Arbeit fallen läßt und wieder aufnimmt, psc_157.005
vielleicht nach Jahren, werden sich Widersprüche einschleichen, psc_157.006
wo er sich nicht genau überwachen konnte, und es werden sich psc_157.007
wirklich Stilverschiedenheiten einfinden, wenn sich der Dichter psc_157.008
nicht ganz hineinzuversetzen weiß. Denn der Dichter ändert psc_157.009
in der Regel ja fortwährend seinen Stil; ein ganz constanter psc_157.010
Stil ist bis jetzt wenigstens mit Sicherheit noch nirgends psc_157.011
beobachtet worden. Hierüber vgl. Müllenhoff, Zeitschrift für psc_157.012
deutsches Alterthum 23, 114 f.; Aufsätze über Goethe S. 294 f.

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  Ein solches Werk gelangt mithin in der Regel nicht zu psc_157.014
einer völligen durchgearbeiteten und tadellosen Einheit; es trägt psc_157.015
die Spuren der allmäligen Entstehung deutlich an der Stirn. psc_157.016
Das lehrreichste Beispiel hierfür ist Goethes „Faust“; aber psc_157.017
auch andere zeigen die Spuren allmäliger Entstehung. So psc_157.018
der „Wilhelm Meister“: als Charlotte Schiller das Manuscript psc_157.019
des Romans in die Hand bekam, da merkte sie dies psc_157.020
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Namen führten; so heißt Lothario mit dem für psc_157.022
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wenn man nicht das Gegentheil wüßte, ganz gewiß auf verschiedene psc_157.026
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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/173>, abgerufen am 28.03.2024.