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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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und Rhythmus kann als ein Proceß der Phantasie bezeichnet psc_161.002
werden. Aber darauf kommts uns hier nicht an, sondern psc_161.003
wir wollen jetzt vor allem die elementare Fähigkeit unserer psc_161.004
Seele erkennen, welche dabei in Thätigkeit ist -- diejenige psc_161.005
Fähigkeit, welche wir als die Kraft der Phantasie zu bezeichnen psc_161.006
pflegen.

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Es ist nun ganz klar, daß die Phantasie als solche psc_161.008
Grundkraft mindestens in starker Verwandtschaft mit dem psc_161.009
Gedächtniß steht; ja die Frage ist nothwendig, ob sie nicht psc_161.010
überhaupt mit dem Gedächtniß zusammenfällt. Jch bin geneigt psc_161.011
anzunehmen, Gedächtniß und Phantasie seien allerdings dasselbe: psc_161.012
die Fähigkeit zur Reproduction alter Vorstellungen. psc_161.013
Es fragt sich, ob jemals eine Vorstellung genau so reproducirt psc_161.014
wird, wie sie ursprünglich in den Geist eintrat. Es psc_161.015
giebt Psychologen, welche das läugnen und annehmen, daß psc_161.016
jedesmal mit der Reproduction eine Veränderung verbunden psc_161.017
sei. Wir brauchen die Frage hier nicht zu entscheiden; genug, psc_161.018
die Reproduction ist mehr oder weniger genau: es giebt psc_161.019
Grade der Genauigkeit und Ungenauigkeit im Gedächtniß. psc_161.020
Sofern die Vorstellung ungenau ist, hat eine Umwandlung psc_161.021
stattgefunden; diese Umwandlung alter Vorstellungen ist die psc_161.022
Arbeit der Phantasie. Die Phantasie ist also die verwandelnde psc_161.023
Reproduction. Für die Einen wäre demnach Phantasie psc_161.024
und Gedächtniß gleich, für die Andern nicht ganz.

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Ganz ähnlich steht es mit dem Zusammenhang, in psc_161.026
welchem Vorstellungen reproducirt werden. So oft jene psc_161.027
Umwandlung stattgefunden hat, tritt eine andere Einordnung psc_161.028
ein; durch diese Einordnung werden neue Vorstellungen erweckt.

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und Rhythmus kann als ein Proceß der Phantasie bezeichnet psc_161.002
werden. Aber darauf kommts uns hier nicht an, sondern psc_161.003
wir wollen jetzt vor allem die elementare Fähigkeit unserer psc_161.004
Seele erkennen, welche dabei in Thätigkeit ist — diejenige psc_161.005
Fähigkeit, welche wir als die Kraft der Phantasie zu bezeichnen psc_161.006
pflegen.

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  Es ist nun ganz klar, daß die Phantasie als solche psc_161.008
Grundkraft mindestens in starker Verwandtschaft mit dem psc_161.009
Gedächtniß steht; ja die Frage ist nothwendig, ob sie nicht psc_161.010
überhaupt mit dem Gedächtniß zusammenfällt. Jch bin geneigt psc_161.011
anzunehmen, Gedächtniß und Phantasie seien allerdings dasselbe: psc_161.012
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Es fragt sich, ob jemals eine Vorstellung genau so reproducirt psc_161.014
wird, wie sie ursprünglich in den Geist eintrat. Es psc_161.015
giebt Psychologen, welche das läugnen und annehmen, daß psc_161.016
jedesmal mit der Reproduction eine Veränderung verbunden psc_161.017
sei. Wir brauchen die Frage hier nicht zu entscheiden; genug, psc_161.018
die Reproduction ist mehr oder weniger genau: es giebt psc_161.019
Grade der Genauigkeit und Ungenauigkeit im Gedächtniß. psc_161.020
Sofern die Vorstellung ungenau ist, hat eine Umwandlung psc_161.021
stattgefunden; diese Umwandlung alter Vorstellungen ist die psc_161.022
Arbeit der Phantasie. Die Phantasie ist also die verwandelnde psc_161.023
Reproduction. Für die Einen wäre demnach Phantasie psc_161.024
und Gedächtniß gleich, für die Andern nicht ganz.

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  Ganz ähnlich steht es mit dem Zusammenhang, in psc_161.026
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[161/0177] psc_161.001 und Rhythmus kann als ein Proceß der Phantasie bezeichnet psc_161.002 werden. Aber darauf kommts uns hier nicht an, sondern psc_161.003 wir wollen jetzt vor allem die elementare Fähigkeit unserer psc_161.004 Seele erkennen, welche dabei in Thätigkeit ist — diejenige psc_161.005 Fähigkeit, welche wir als die Kraft der Phantasie zu bezeichnen psc_161.006 pflegen. psc_161.007   Es ist nun ganz klar, daß die Phantasie als solche psc_161.008 Grundkraft mindestens in starker Verwandtschaft mit dem psc_161.009 Gedächtniß steht; ja die Frage ist nothwendig, ob sie nicht psc_161.010 überhaupt mit dem Gedächtniß zusammenfällt. Jch bin geneigt psc_161.011 anzunehmen, Gedächtniß und Phantasie seien allerdings dasselbe: psc_161.012 die Fähigkeit zur Reproduction alter Vorstellungen. psc_161.013 Es fragt sich, ob jemals eine Vorstellung genau so reproducirt psc_161.014 wird, wie sie ursprünglich in den Geist eintrat. Es psc_161.015 giebt Psychologen, welche das läugnen und annehmen, daß psc_161.016 jedesmal mit der Reproduction eine Veränderung verbunden psc_161.017 sei. Wir brauchen die Frage hier nicht zu entscheiden; genug, psc_161.018 die Reproduction ist mehr oder weniger genau: es giebt psc_161.019 Grade der Genauigkeit und Ungenauigkeit im Gedächtniß. psc_161.020 Sofern die Vorstellung ungenau ist, hat eine Umwandlung psc_161.021 stattgefunden; diese Umwandlung alter Vorstellungen ist die psc_161.022 Arbeit der Phantasie. Die Phantasie ist also die verwandelnde psc_161.023 Reproduction. Für die Einen wäre demnach Phantasie psc_161.024 und Gedächtniß gleich, für die Andern nicht ganz. psc_161.025   Ganz ähnlich steht es mit dem Zusammenhang, in psc_161.026 welchem Vorstellungen reproducirt werden. So oft jene psc_161.027 Umwandlung stattgefunden hat, tritt eine andere Einordnung psc_161.028 ein; durch diese Einordnung werden neue Vorstellungen erweckt.

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/177>, abgerufen am 28.03.2024.