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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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melancholischen und kranken, sondern einen gesunden, kräftigen, psc_173.002
resoluten, der klar und mannhaft, keineswegs trüb und psc_173.003
finster, in die Welt sieht und der zwar ergreifendes Unglück psc_173.004
zu besingen und also auch wohl zu erleben wußte, aber noch psc_173.005
mehr und noch schöner das Glück! Alle bisherigen Betrachtungen psc_173.006
gehen nicht davon aus, was das Erste sein psc_173.007
müßte, eine Scala sämmtlicher Dichtertypen zu entwerfen psc_173.008
und dann erst eine Verallgemeinerung zu versuchen! Und psc_173.009
dabei werden wir sofort auch cholerische, sanguinische und psc_173.010
phlegmatische Temperamente aufweisen können. Vielleicht psc_173.011
ist es möglich darzulegen, daß gewisse dichterische Wirkungen psc_173.012
mit Melancholie verbunden sind: allerdings wird der psc_173.013
Tragiker oft zur Melancholie geneigt sein, denn er heftete seinen psc_173.014
Blick auf das Tragische nicht mit Vorliebe, wenn er nicht psc_173.015
zum Düstern neigte. Ähnlich der lyrische Dichter des Liebesschmerzes psc_173.016
-- aber der Dichter der "Römischen Elegien"? Er ist psc_173.017
doch kein Melancholiker; er zeichnet sich gerade dadurch aus, psc_173.018
daß auch die Freude befruchtend in seine Seele fällt und die psc_173.019
Phantasie anregt.

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Dies ist also wohl eine einseitige Lehre: die körperlichen psc_173.021
Voraussetzungen der Melancholie sind für das Genie nicht psc_173.022
nöthig. Und vollends Schopenhauers eingehende körperliche psc_173.023
Schilderung des Genies 2, 448 f. ist ganz erträumt und aus psc_173.024
den Fingern gesogen, soweit sie nicht allbekannte Dinge enthält, psc_173.025
z. B. daß große intellectuelle oder künstlerische Begabung psc_173.026
mit großem Umfang des Gehirns verbunden zu sein psc_173.027
pflegt.

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Eine andere Betrachtung aber verspricht mehr Aussicht

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melancholischen und kranken, sondern einen gesunden, kräftigen, psc_173.002
resoluten, der klar und mannhaft, keineswegs trüb und psc_173.003
finster, in die Welt sieht und der zwar ergreifendes Unglück psc_173.004
zu besingen und also auch wohl zu erleben wußte, aber noch psc_173.005
mehr und noch schöner das Glück! Alle bisherigen Betrachtungen psc_173.006
gehen nicht davon aus, was das Erste sein psc_173.007
müßte, eine Scala sämmtlicher Dichtertypen zu entwerfen psc_173.008
und dann erst eine Verallgemeinerung zu versuchen! Und psc_173.009
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phlegmatische Temperamente aufweisen können. Vielleicht psc_173.011
ist es möglich darzulegen, daß gewisse dichterische Wirkungen psc_173.012
mit Melancholie verbunden sind: allerdings wird der psc_173.013
Tragiker oft zur Melancholie geneigt sein, denn er heftete seinen psc_173.014
Blick auf das Tragische nicht mit Vorliebe, wenn er nicht psc_173.015
zum Düstern neigte. Ähnlich der lyrische Dichter des Liebesschmerzes psc_173.016
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doch kein Melancholiker; er zeichnet sich gerade dadurch aus, psc_173.018
daß auch die Freude befruchtend in seine Seele fällt und die psc_173.019
Phantasie anregt.

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  Dies ist also wohl eine einseitige Lehre: die körperlichen psc_173.021
Voraussetzungen der Melancholie sind für das Genie nicht psc_173.022
nöthig. Und vollends Schopenhauers eingehende körperliche psc_173.023
Schilderung des Genies 2, 448 f. ist ganz erträumt und aus psc_173.024
den Fingern gesogen, soweit sie nicht allbekannte Dinge enthält, psc_173.025
z. B. daß große intellectuelle oder künstlerische Begabung psc_173.026
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[173/0189] psc_173.001 melancholischen und kranken, sondern einen gesunden, kräftigen, psc_173.002 resoluten, der klar und mannhaft, keineswegs trüb und psc_173.003 finster, in die Welt sieht und der zwar ergreifendes Unglück psc_173.004 zu besingen und also auch wohl zu erleben wußte, aber noch psc_173.005 mehr und noch schöner das Glück! Alle bisherigen Betrachtungen psc_173.006 gehen nicht davon aus, was das Erste sein psc_173.007 müßte, eine Scala sämmtlicher Dichtertypen zu entwerfen psc_173.008 und dann erst eine Verallgemeinerung zu versuchen! Und psc_173.009 dabei werden wir sofort auch cholerische, sanguinische und psc_173.010 phlegmatische Temperamente aufweisen können. Vielleicht psc_173.011 ist es möglich darzulegen, daß gewisse dichterische Wirkungen psc_173.012 mit Melancholie verbunden sind: allerdings wird der psc_173.013 Tragiker oft zur Melancholie geneigt sein, denn er heftete seinen psc_173.014 Blick auf das Tragische nicht mit Vorliebe, wenn er nicht psc_173.015 zum Düstern neigte. Ähnlich der lyrische Dichter des Liebesschmerzes psc_173.016 — aber der Dichter der „Römischen Elegien“? Er ist psc_173.017 doch kein Melancholiker; er zeichnet sich gerade dadurch aus, psc_173.018 daß auch die Freude befruchtend in seine Seele fällt und die psc_173.019 Phantasie anregt. psc_173.020   Dies ist also wohl eine einseitige Lehre: die körperlichen psc_173.021 Voraussetzungen der Melancholie sind für das Genie nicht psc_173.022 nöthig. Und vollends Schopenhauers eingehende körperliche psc_173.023 Schilderung des Genies 2, 448 f. ist ganz erträumt und aus psc_173.024 den Fingern gesogen, soweit sie nicht allbekannte Dinge enthält, psc_173.025 z. B. daß große intellectuelle oder künstlerische Begabung psc_173.026 mit großem Umfang des Gehirns verbunden zu sein psc_173.027 pflegt. psc_173.028   Eine andere Betrachtung aber verspricht mehr Aussicht

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/189>, abgerufen am 25.04.2024.