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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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Es ergiebt sich also die Nothwendigkeit, darauf zu achten, psc_187.002
welche Nuancen des Publicums in der Litteraturgeschichte auftreten. psc_187.003
Das Publicum arbeitet sehr stark mit. Es fragt psc_187.004
sich, was es sich bieten läßt. Das Publicum von Athen, psc_187.005
Florenz, Paris ist Bedingung für die betreffende Litteratur psc_187.006
und verdient deshalb große Beachtung. Ohne die specifische psc_187.007
weimarische Gesellschaft hätte Goethe nicht werden können, psc_187.008
was er geworden ist. Blieb er in Frankfurt, dann mußte psc_187.009
sich das ganze Niveau auf einer bestimmten Stufe halten, psc_187.010
und die Höhe von "Tasso" und "Jphigenie" wäre nicht zu psc_187.011
erreichen gewesen.

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Bei den folgenden Erörterungen sehen wir von diesen psc_187.013
Verschiedenheiten möglichst ab und setzen ein Durchschnittspublicum psc_187.014
voraus.

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2. Altes und Neues.
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Wie oft kann man dasselbe Gedicht hören? Jedenfalls psc_187.017
mehrmals, ja wir haben sogar das Bedürfniß, was uns gefallen psc_187.018
hat, wiederholt zu hören. Das plastische und malerische psc_187.019
und architektonische Kunstwerk bleibt stehen, und so psc_187.020
können wir lange davor verweilen, wenn es uns gefällt; psc_187.021
aber das Gedicht geht vorüber, und wie in der Musik ist psc_187.022
dauernder Genuß hier nur durch Wiederholung möglich: wir psc_187.023
haben kein anderes Mittel den Genuß zu verlängern als das psc_187.024
da capo.

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Der moderne Tanz ist immer derselbe, fortwährende psc_187.026
Wiederholung derselben Bewegung; anders nur bei den Franzosen. psc_187.027
Man tanzt hier nicht fürs Publicum, sondern zum

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  Der moderne Tanz ist immer derselbe, fortwährende psc_187.026
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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/203>, abgerufen am 24.04.2024.