Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

psc_193.001
man kann keine Dauer angeben, die eingehalten werden psc_193.002
muß. Auch die Actschlüsse, die Pausen also haben ihre feste psc_193.003
Tradition. Auch hier bestehen zeitliche und nationale Verschiedenheiten, psc_193.004
verschiedene Länge des Dramas in Deutschland und in psc_193.005
Frankreich; die Franzosen sind geduldiger, ihr Theaterabend psc_193.006
ist länger als ein deutscher.

psc_193.007

Ein poetisches Product wird um so sicherer wirken, je psc_193.008
kürzer es ist. Das allerkürzeste, ein schlagendes Wort, psc_193.009
"geflügeltes Wort", thut verhältnißmäßig die allergrößte psc_193.010
Wirkung. So das Sprichwort -- es wird fast so allgemein psc_193.011
wie die Sprache, d. h. es hat in den weitesten Kreisen und psc_193.012
für die fernsten Zeiten die Aufmerksamkeit gefesselt.

psc_193.013

Jn den verhältnißmäßig engen Schranken der lyrischen psc_193.014
Poesie, besonders der ältesten, einstrophigen, ist Verschiedenes psc_193.015
möglich, was bei weiterer Ausdehnung sofort unmöglich wird; psc_193.016
das zeigen z. B. die Leiche des 12. Jahrhunderts. Wie vielerlei psc_193.017
Stoff müssen die langen Minneleiche fortschleppen, während psc_193.018
die Lieder in ihrer Kürze eine gewisse Eintönigkeit vertragen!

psc_193.019

Also für längere Producte ist ganz wesentlich

psc_193.020

B. Die Abwechselung.

psc_193.021

Hier kommt das Motiv von 2) in Betracht: das Neue. psc_193.022
Das Neue reizt zunächst die Aufmerksamkeit; am Alten erlahmt psc_193.023
sie, wenn es nicht ganz besondere Form als Vorzüge psc_193.024
einsetzt. Wir verstehen unter Abwechselung die Eigenschaft, psc_193.025
durch welche wir am Einzelnen nicht zu lange festgehalten psc_193.026
werden, sondern rasch zu Neuem übergehen. Wir können sie psc_193.027
auch Reichthum nennen. Der Reichthum eines poetischen psc_193.028
Products setzt ein Vielerlei in Stoff und Form voraus.

psc_193.001
man kann keine Dauer angeben, die eingehalten werden psc_193.002
muß. Auch die Actschlüsse, die Pausen also haben ihre feste psc_193.003
Tradition. Auch hier bestehen zeitliche und nationale Verschiedenheiten, psc_193.004
verschiedene Länge des Dramas in Deutschland und in psc_193.005
Frankreich; die Franzosen sind geduldiger, ihr Theaterabend psc_193.006
ist länger als ein deutscher.

psc_193.007

  Ein poetisches Product wird um so sicherer wirken, je psc_193.008
kürzer es ist. Das allerkürzeste, ein schlagendes Wort, psc_193.009
„geflügeltes Wort“, thut verhältnißmäßig die allergrößte psc_193.010
Wirkung. So das Sprichwort — es wird fast so allgemein psc_193.011
wie die Sprache, d. h. es hat in den weitesten Kreisen und psc_193.012
für die fernsten Zeiten die Aufmerksamkeit gefesselt.

psc_193.013

  Jn den verhältnißmäßig engen Schranken der lyrischen psc_193.014
Poesie, besonders der ältesten, einstrophigen, ist Verschiedenes psc_193.015
möglich, was bei weiterer Ausdehnung sofort unmöglich wird; psc_193.016
das zeigen z. B. die Leiche des 12. Jahrhunderts. Wie vielerlei psc_193.017
Stoff müssen die langen Minneleiche fortschleppen, während psc_193.018
die Lieder in ihrer Kürze eine gewisse Eintönigkeit vertragen!

psc_193.019

  Also für längere Producte ist ganz wesentlich

psc_193.020

  B. Die Abwechselung.

psc_193.021

  Hier kommt das Motiv von 2) in Betracht: das Neue. psc_193.022
Das Neue reizt zunächst die Aufmerksamkeit; am Alten erlahmt psc_193.023
sie, wenn es nicht ganz besondere Form als Vorzüge psc_193.024
einsetzt. Wir verstehen unter Abwechselung die Eigenschaft, psc_193.025
durch welche wir am Einzelnen nicht zu lange festgehalten psc_193.026
werden, sondern rasch zu Neuem übergehen. Wir können sie psc_193.027
auch Reichthum nennen. Der Reichthum eines poetischen psc_193.028
Products setzt ein Vielerlei in Stoff und Form voraus. 

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0209" n="193"/><lb n="psc_193.001"/>
man kann keine Dauer angeben, die eingehalten werden <lb n="psc_193.002"/>
muß. Auch die Actschlüsse, die Pausen also haben ihre feste <lb n="psc_193.003"/>
Tradition. Auch hier bestehen zeitliche und nationale Verschiedenheiten, <lb n="psc_193.004"/>
verschiedene Länge des Dramas in Deutschland und in <lb n="psc_193.005"/>
Frankreich; die Franzosen sind geduldiger, ihr Theaterabend <lb n="psc_193.006"/>
ist länger als ein deutscher.</p>
            <lb n="psc_193.007"/>
            <p>  Ein poetisches Product wird um so sicherer wirken, je <lb n="psc_193.008"/>
kürzer es ist. Das allerkürzeste, ein schlagendes Wort, <lb n="psc_193.009"/>
&#x201E;geflügeltes Wort&#x201C;, thut verhältnißmäßig die allergrößte <lb n="psc_193.010"/>
Wirkung. So das Sprichwort &#x2014; es wird fast so allgemein <lb n="psc_193.011"/>
wie die Sprache, d. h. es hat in den weitesten Kreisen und <lb n="psc_193.012"/>
für die fernsten Zeiten die Aufmerksamkeit gefesselt.</p>
            <lb n="psc_193.013"/>
            <p>  Jn den verhältnißmäßig engen Schranken der lyrischen <lb n="psc_193.014"/>
Poesie, besonders der ältesten, einstrophigen, ist Verschiedenes <lb n="psc_193.015"/>
möglich, was bei weiterer Ausdehnung sofort unmöglich wird; <lb n="psc_193.016"/>
das zeigen z. B. die Leiche des 12. Jahrhunderts. Wie vielerlei <lb n="psc_193.017"/>
Stoff müssen die langen Minneleiche fortschleppen, während <lb n="psc_193.018"/>
die Lieder in ihrer Kürze eine gewisse Eintönigkeit vertragen!</p>
            <lb n="psc_193.019"/>
            <p>  Also für längere Producte ist ganz wesentlich</p>
            <lb n="psc_193.020"/>
            <p> <hi rendition="#et">  <hi rendition="#aq">B</hi>. Die Abwechselung.</hi> </p>
            <lb n="psc_193.021"/>
            <p>  Hier kommt das Motiv von 2) in Betracht: das Neue. <lb n="psc_193.022"/>
Das Neue reizt zunächst die Aufmerksamkeit; am Alten erlahmt <lb n="psc_193.023"/>
sie, wenn es nicht ganz besondere Form als Vorzüge <lb n="psc_193.024"/>
einsetzt. Wir verstehen unter Abwechselung die Eigenschaft, <lb n="psc_193.025"/>
durch welche wir am Einzelnen nicht zu lange festgehalten <lb n="psc_193.026"/>
werden, sondern rasch zu Neuem übergehen. Wir können sie <lb n="psc_193.027"/>
auch Reichthum nennen. Der Reichthum eines poetischen <lb n="psc_193.028"/>
Products setzt ein Vielerlei in Stoff und Form voraus.
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[193/0209] psc_193.001 man kann keine Dauer angeben, die eingehalten werden psc_193.002 muß. Auch die Actschlüsse, die Pausen also haben ihre feste psc_193.003 Tradition. Auch hier bestehen zeitliche und nationale Verschiedenheiten, psc_193.004 verschiedene Länge des Dramas in Deutschland und in psc_193.005 Frankreich; die Franzosen sind geduldiger, ihr Theaterabend psc_193.006 ist länger als ein deutscher. psc_193.007   Ein poetisches Product wird um so sicherer wirken, je psc_193.008 kürzer es ist. Das allerkürzeste, ein schlagendes Wort, psc_193.009 „geflügeltes Wort“, thut verhältnißmäßig die allergrößte psc_193.010 Wirkung. So das Sprichwort — es wird fast so allgemein psc_193.011 wie die Sprache, d. h. es hat in den weitesten Kreisen und psc_193.012 für die fernsten Zeiten die Aufmerksamkeit gefesselt. psc_193.013   Jn den verhältnißmäßig engen Schranken der lyrischen psc_193.014 Poesie, besonders der ältesten, einstrophigen, ist Verschiedenes psc_193.015 möglich, was bei weiterer Ausdehnung sofort unmöglich wird; psc_193.016 das zeigen z. B. die Leiche des 12. Jahrhunderts. Wie vielerlei psc_193.017 Stoff müssen die langen Minneleiche fortschleppen, während psc_193.018 die Lieder in ihrer Kürze eine gewisse Eintönigkeit vertragen! psc_193.019   Also für längere Producte ist ganz wesentlich psc_193.020   B. Die Abwechselung. psc_193.021   Hier kommt das Motiv von 2) in Betracht: das Neue. psc_193.022 Das Neue reizt zunächst die Aufmerksamkeit; am Alten erlahmt psc_193.023 sie, wenn es nicht ganz besondere Form als Vorzüge psc_193.024 einsetzt. Wir verstehen unter Abwechselung die Eigenschaft, psc_193.025 durch welche wir am Einzelnen nicht zu lange festgehalten psc_193.026 werden, sondern rasch zu Neuem übergehen. Wir können sie psc_193.027 auch Reichthum nennen. Der Reichthum eines poetischen psc_193.028 Products setzt ein Vielerlei in Stoff und Form voraus.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/209
Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/209>, abgerufen am 19.04.2024.