Also auch außerhalb des Dramas treffen wir bei der psc_005.002 Poesie nicht bloß Rede. Die Rede ist eben ein Ausdrucksmittel psc_005.003 des Menschen, aber nicht das einzige; und in der Art psc_005.004 des Menschen liegt es, die Sprache durch alle übrigen Ausdrucksmittel psc_005.005 mindestens zu unterstützen. Die Deutschen sind psc_005.006 mehr als andere Völker, im Gegensatz besonders zu der lebhaften psc_005.007 Gebärdensprache der Jtaliener, in Gefahr die Gewalt psc_005.008 der Sprache an sich zu überschätzen und die andern Ausdrucksmittel psc_005.009 zu unterschätzen. Schon der unarticulirte Schrei, psc_005.010 der auf dem Theater kaum entbehrt werden kann, ist nicht psc_005.011 Sprache!
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Für die Aufgabe der Poetik nun, wie ich sie mir vorzeichne, psc_005.013 bemerke ich, daß ich von den zur Sprache hinzutretenden psc_005.014 Ausdrucksmitteln hier absehe, obwohl diejenigen, psc_005.015 welche beim Vortrage der Poesie in Betracht kommen, das psc_005.016 poetische Kunstwerk erst zur völligen Erscheinung bringen. psc_005.017 Jch will keine Theorie der Declamation oder gar der Schauspielkunst psc_005.018 geben noch eine solche des Gesanges, und vollends psc_005.019 nicht des Tanzes. Aber ich will allerdings darauf hinweisen, psc_005.020 daß wirklich lebendig die kunstmäßige Anwendung psc_005.021 der Sprache erst wird, wenn anderes hinzutritt. Für uns psc_005.022 freilich besteht der Genuß der Poesie heute fast nur im psc_005.023 stillen Lesen. Aber dies ist etwas verhältnißmäßig spätes. -- psc_005.024 Aristoteles setzt allerdings schon wiederholt das einsame psc_005.025 Lesen voraus, sogar für die Tragödie (Poet. 1462a, 17 psc_005.026 und sonst). Aber ganze Jahrtausende menschlicher Entwickelung psc_005.027 kannten die Poesie nur als lebendigen Gesang und lebendige psc_005.028 Rede. Wo es sich darum handelt, in die Natur der
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Also auch außerhalb des Dramas treffen wir bei der psc_005.002 Poesie nicht bloß Rede. Die Rede ist eben ein Ausdrucksmittel psc_005.003 des Menschen, aber nicht das einzige; und in der Art psc_005.004 des Menschen liegt es, die Sprache durch alle übrigen Ausdrucksmittel psc_005.005 mindestens zu unterstützen. Die Deutschen sind psc_005.006 mehr als andere Völker, im Gegensatz besonders zu der lebhaften psc_005.007 Gebärdensprache der Jtaliener, in Gefahr die Gewalt psc_005.008 der Sprache an sich zu überschätzen und die andern Ausdrucksmittel psc_005.009 zu unterschätzen. Schon der unarticulirte Schrei, psc_005.010 der auf dem Theater kaum entbehrt werden kann, ist nicht psc_005.011 Sprache!
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Für die Aufgabe der Poetik nun, wie ich sie mir vorzeichne, psc_005.013 bemerke ich, daß ich von den zur Sprache hinzutretenden psc_005.014 Ausdrucksmitteln hier absehe, obwohl diejenigen, psc_005.015 welche beim Vortrage der Poesie in Betracht kommen, das psc_005.016 poetische Kunstwerk erst zur völligen Erscheinung bringen. psc_005.017 Jch will keine Theorie der Declamation oder gar der Schauspielkunst psc_005.018 geben noch eine solche des Gesanges, und vollends psc_005.019 nicht des Tanzes. Aber ich will allerdings darauf hinweisen, psc_005.020 daß wirklich lebendig die kunstmäßige Anwendung psc_005.021 der Sprache erst wird, wenn anderes hinzutritt. Für uns psc_005.022 freilich besteht der Genuß der Poesie heute fast nur im psc_005.023 stillen Lesen. Aber dies ist etwas verhältnißmäßig spätes. — psc_005.024 Aristoteles setzt allerdings schon wiederholt das einsame psc_005.025 Lesen voraus, sogar für die Tragödie (Poet. 1462a, 17 psc_005.026 und sonst). Aber ganze Jahrtausende menschlicher Entwickelung psc_005.027 kannten die Poesie nur als lebendigen Gesang und lebendige psc_005.028 Rede. Wo es sich darum handelt, in die Natur der
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Für die Aufgabe der Poetik nun, wie ich sie mir vorzeichne, psc_005.013
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nicht des Tanzes. Aber ich will allerdings darauf hinweisen, psc_005.020
daß wirklich lebendig die kunstmäßige Anwendung psc_005.021
der Sprache erst wird, wenn anderes hinzutritt. Für uns psc_005.022
freilich besteht der Genuß der Poesie heute fast nur im psc_005.023
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Aristoteles setzt allerdings schon wiederholt das einsame psc_005.025
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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/21>, abgerufen am 30.06.2022.
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