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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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Über das nähere Verhältniß zwischen Original und psc_198.002
Nachbildung s. Kap. 4 "Jnnere Form".

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Vgl. auch für das Verhältniß von Poesie und Wissenschaft psc_198.004
Kap. 3 (S. 208). Die Poesie kann bei der Erscheinung psc_198.005
stehen bleiben und die geheimnißvollen Gründe der Dinge im psc_198.006
Dunkel lassen, während die Wissenschaft verpflichtet ist, diese psc_198.007
Gründe soweit sie es kann zu enthüllen.

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B. Die ästhetische Schwelle.

psc_198.009

Der Begriff stammt von Fechner, Vorschule 1, 49 f. psc_198.010
Es handelt sich um den Grad der Empfänglichkeit des Publicums. psc_198.011
Wer vom tiefsten Schmerz bewegt ist, wird nicht im psc_198.012
Stande sein über eine lustige Geschichte zu lachen. Wer in psc_198.013
erregter Heiterkeit ist, wird sich nicht für Tragisches interessiren. psc_198.014
Das Jnteresse für den poetischen Gegenstand muß erst über psc_198.015
die ästhetische Schwelle kommen, vorbereitete Stimmung treffen. psc_198.016
Deshalb ist die Ankündigung des Gegenstandes nothwendig, psc_198.017
besonders für das Theater: man will ein Lustspiel nur besuchen, psc_198.018
wenn man sich im allgemeinen zum Lachen aufgelegt psc_198.019
fühlt. Aber darum ist auch das Theater günstig: es setzt psc_198.020
eine gewisse Bereitwilligkeit voraus, und es bereitet die Stimmung psc_198.021
selbst von vornherein vor; das Local isolirt die Aufmerksamkeit psc_198.022
u. s. w.

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Daß durch einen poetischen Gegenstand die Schwelle psc_198.024
überschritten werde, die Schwelle der Aufmerksamkeit und des psc_198.025
Gefallens, ist besonders für den Anfang wichtig. Daraus psc_198.026
ergeben sich Folgerungen für die Disposition: der Anfang psc_198.027
ist besonders wichtig. Die Exposition ist eigentlich außerhalb psc_198.028
der Bühne noch wichtiger als im Theater, wo eben die

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  Über das nähere Verhältniß zwischen Original und psc_198.002
Nachbildung s. Kap. 4 „Jnnere Form“.

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  Vgl. auch für das Verhältniß von Poesie und Wissenschaft psc_198.004
Kap. 3 (S. 208). Die Poesie kann bei der Erscheinung psc_198.005
stehen bleiben und die geheimnißvollen Gründe der Dinge im psc_198.006
Dunkel lassen, während die Wissenschaft verpflichtet ist, diese psc_198.007
Gründe soweit sie es kann zu enthüllen.

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B. Die ästhetische Schwelle.

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  Der Begriff stammt von Fechner, Vorschule 1, 49 f. psc_198.010
Es handelt sich um den Grad der Empfänglichkeit des Publicums. psc_198.011
Wer vom tiefsten Schmerz bewegt ist, wird nicht im psc_198.012
Stande sein über eine lustige Geschichte zu lachen. Wer in psc_198.013
erregter Heiterkeit ist, wird sich nicht für Tragisches interessiren. psc_198.014
Das Jnteresse für den poetischen Gegenstand muß erst über psc_198.015
die ästhetische Schwelle kommen, vorbereitete Stimmung treffen. psc_198.016
Deshalb ist die Ankündigung des Gegenstandes nothwendig, psc_198.017
besonders für das Theater: man will ein Lustspiel nur besuchen, psc_198.018
wenn man sich im allgemeinen zum Lachen aufgelegt psc_198.019
fühlt. Aber darum ist auch das Theater günstig: es setzt psc_198.020
eine gewisse Bereitwilligkeit voraus, und es bereitet die Stimmung psc_198.021
selbst von vornherein vor; das Local isolirt die Aufmerksamkeit psc_198.022
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  Daß durch einen poetischen Gegenstand die Schwelle psc_198.024
überschritten werde, die Schwelle der Aufmerksamkeit und des psc_198.025
Gefallens, ist besonders für den Anfang wichtig. Daraus psc_198.026
ergeben sich Folgerungen für die Disposition: der Anfang psc_198.027
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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/214>, abgerufen am 19.04.2024.