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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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Erschöpfung des Stoffs verpflichtet, sie darf, ja soll errathen psc_209.002
lassen, mit der Selbstthätigkeit der Einbildungskraft rechnen psc_209.003
und dieselbe anregen. Eine einzelne Andeutung schafft oft ein psc_209.004
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Betrachtungen über das Verhältniß von Poesie und psc_209.006
Wissenschaft könnten zu viel größerer Genauigkeit getrieben psc_209.007
werden. Wir nahmen dasselbe oben historisch vor; die thatsächliche psc_209.008
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aus der Poesie.

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So fallen ins Bereich der Poesie, da sie die äußere psc_209.011
Welt behandelt, alle sichtbaren Naturgegenstände; auch hörbare, psc_209.012
fühlbare, faßbare, so weit sie mit ihren Mitteln dieselben psc_209.013
darstellen kann. Und zwar entweder als Hauptmotive, psc_209.014
wie in beschreibender Dichtung, z. B. bei Brockes; oder als psc_209.015
Nebenmotive, wie namentlich bei Goethe:

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Mineral: "Granit".

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Botanik: Mignons "Kennst du das Land".

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der Gegend): "Werther". Landschaftlicher Wechsel der psc_209.020
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gebraucht wird, kommt zur äußern Welt Jnneres hinzu psc_209.024
und die äußere Welt erhält den Schein, als ob sie auf psc_209.025
innern Motiven beruhe. Wie im Menschenleben die äußere psc_209.026
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hat, also äußere und innere Welt meist Hand in Hand gehen, psc_209.028
so kann dies auch in die umgebende physische Welt projicirt

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Erschöpfung des Stoffs verpflichtet, sie darf, ja soll errathen psc_209.002
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und dieselbe anregen. Eine einzelne Andeutung schafft oft ein psc_209.004
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  Betrachtungen über das Verhältniß von Poesie und psc_209.006
Wissenschaft könnten zu viel größerer Genauigkeit getrieben psc_209.007
werden. Wir nahmen dasselbe oben historisch vor; die thatsächliche psc_209.008
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aus der Poesie.

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  So fallen ins Bereich der Poesie, da sie die äußere psc_209.011
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wie in beschreibender Dichtung, z. B. bei Brockes; oder als psc_209.015
Nebenmotive, wie namentlich bei Goethe:

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  Mineral: „Granit“.

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  Botanik: Mignons „Kennst du das Land“.

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  Landschaft (meteorologische und mineralogische Physiognomie psc_209.019
der Gegend): „Werther“. Landschaftlicher Wechsel der psc_209.020
Jahreszeit ist ein uraltes Motiv der Lyrik.

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  Astronomie: Mond, Sonne.

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  Sowie nun aber die sehr leicht eintretende Personification psc_209.023
gebraucht wird, kommt zur äußern Welt Jnneres hinzu psc_209.024
und die äußere Welt erhält den Schein, als ob sie auf psc_209.025
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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/225>, abgerufen am 20.04.2024.