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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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zur Biographie und Geschichte (wie in der bloßen psc_211.002
äußern Welt zur Mineralogie, Botanik und Astronomie); psc_211.003
allerdings auch als Krankengeschichte u. dgl. zur Medicin, psc_211.004
Pathologie. Überwiegend ist der Stoff aber psychologischer psc_211.005
Natur. Seelisches bildet immer den Kern: seien es psychologische psc_211.006
Regungen (Stücke, Momente aus dem Menschenleben), psc_211.007
sei es die Entwicklung eines ganzen Charakters, wie psc_211.008
sie die Biographie geben muß. Die wissenschaftliche Biographie psc_211.009
muß ihren Stoff zu erschöpfen suchen, das Werden und psc_211.010
Wachsen; so vollständig als möglich muß sie das Verhältniß psc_211.011
zu den verschiedenen Seiten des Menschenlebens darzustellen psc_211.012
streben. Die poetische Erzählung hat es einfacher. Die psc_211.013
Biographie ist aber fast nie ein rein wissenschaftliches Werk; psc_211.014
sie nähert sich sehr oft darin der poetischen Erzählung, dem psc_211.015
biographischen Roman, daß sie nur allgemein Wissenswürdiges psc_211.016
auswählt. Das Publicum fordert nicht bloß Gemeinverständlichkeit, psc_211.017
sondern wünscht besonders auch das allgemein Menschliche psc_211.018
betont zu sehen. Nehmen wir z. B. eine Gelehrtenbiographie, psc_211.019
so wird ein wissenschaftlicher Verfasser die specifisch psc_211.020
wissenschaftliche Thätigkeit schildern, ein Romancier wird andeutungsweise psc_211.021
davon reden -- warum? Es liegt nicht in psc_211.022
der Natur des Gegenstandes, sondern in der Natur des psc_211.023
Publicums. Der Dichter will nicht für Gelehrte schreiben, psc_211.024
die ein Fachinteresse haben, sondern für ein gemischtes Publicum. psc_211.025
Selbst Dichterbiographien -- strenggenommen müßten psc_211.026
sie von Metrik, Sprachgebrauch u. s. w. reden; trotzdem hat psc_211.027
Goethe in "Dichtung und Wahrheit" nur in kurzen Andeutungen psc_211.028
Derartiges berührt. Fachmäßiges findet keine Resonanz

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[211/0227] psc_211.001 zur Biographie und Geschichte (wie in der bloßen psc_211.002 äußern Welt zur Mineralogie, Botanik und Astronomie); psc_211.003 allerdings auch als Krankengeschichte u. dgl. zur Medicin, psc_211.004 Pathologie. Überwiegend ist der Stoff aber psychologischer psc_211.005 Natur. Seelisches bildet immer den Kern: seien es psychologische psc_211.006 Regungen (Stücke, Momente aus dem Menschenleben), psc_211.007 sei es die Entwicklung eines ganzen Charakters, wie psc_211.008 sie die Biographie geben muß. Die wissenschaftliche Biographie psc_211.009 muß ihren Stoff zu erschöpfen suchen, das Werden und psc_211.010 Wachsen; so vollständig als möglich muß sie das Verhältniß psc_211.011 zu den verschiedenen Seiten des Menschenlebens darzustellen psc_211.012 streben. Die poetische Erzählung hat es einfacher. Die psc_211.013 Biographie ist aber fast nie ein rein wissenschaftliches Werk; psc_211.014 sie nähert sich sehr oft darin der poetischen Erzählung, dem psc_211.015 biographischen Roman, daß sie nur allgemein Wissenswürdiges psc_211.016 auswählt. Das Publicum fordert nicht bloß Gemeinverständlichkeit, psc_211.017 sondern wünscht besonders auch das allgemein Menschliche psc_211.018 betont zu sehen. Nehmen wir z. B. eine Gelehrtenbiographie, psc_211.019 so wird ein wissenschaftlicher Verfasser die specifisch psc_211.020 wissenschaftliche Thätigkeit schildern, ein Romancier wird andeutungsweise psc_211.021 davon reden — warum? Es liegt nicht in psc_211.022 der Natur des Gegenstandes, sondern in der Natur des psc_211.023 Publicums. Der Dichter will nicht für Gelehrte schreiben, psc_211.024 die ein Fachinteresse haben, sondern für ein gemischtes Publicum. psc_211.025 Selbst Dichterbiographien — strenggenommen müßten psc_211.026 sie von Metrik, Sprachgebrauch u. s. w. reden; trotzdem hat psc_211.027 Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ nur in kurzen Andeutungen psc_211.028 Derartiges berührt. Fachmäßiges findet keine Resonanz

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/227>, abgerufen am 18.04.2024.