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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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Pönitentialbücher und Beichten des Mittelalters; dazu die psc_214.002
Strafgesetzbücher alter und neuer Zeit.

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Freilich vor allem ist wichtig: das Verhältniß des psc_214.004
Menschen zu Gott, zu andern Menschen, zu sich selbst.

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Hier wären auf jedem Gebiet die Themata zu bezeichnen, psc_214.006
welche die Poesie thatsächlich behandelt hat, und die möglichen, psc_214.007
die sie behandeln könnte.

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Und all diese werden individualisirt, d. h. an bestimmte psc_214.009
Jndividuen geknüpft, deren Charaktere dargestellt werden. psc_214.010
Ein gesetzmäßiges Verhalten findet statt zwischen bestimmten psc_214.011
Charakteren und bestimmten Handlungen. Die Poesie wird psc_214.012
der Forderung der Wahrheit und Wahrscheinlichkeit bei dem psc_214.013
Verhältniß zwischen Handlung und Charakter gerecht zu psc_214.014
werden suchen. Andererseits wird öfters auch ein scharfer Contrast psc_214.015
zwischen Charakter und Handlung gesucht; z. B. in Bulwers psc_214.016
"Eugen Aram": ein Mörder, der sich später bekehrt hat psc_214.017
und eine Art Heiliger geworden ist. Aber der Wille des psc_214.018
Menschen ist unfrei, gebunden durch angeborene Charaktereigenschaften. psc_214.019
Deshalb eben muß die Poesie die nothwendige psc_214.020
Entsprechung von Charakter und Handlung respectiren.

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Jch will nicht alle Gebiete herzählen, das können Sie psc_214.022
selber. Z. B. das große Gebiet der Liebe -- heut als Nebenmotiv psc_214.023
mindestens unerschöpflich. Es fällt in das Gebiet vom psc_214.024
Verhältniß der Menschen unter einander:

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Unnatürliche Liebe: z. B. La religieuse von Diderot psc_214.026
(vgl. Pönitentialbücher).

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Natürliche Liebe, erhörte oder unerhörte:

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zu einem Mädchen;

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Pönitentialbücher und Beichten des Mittelalters; dazu die psc_214.002
Strafgesetzbücher alter und neuer Zeit.

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  Freilich vor allem ist wichtig: das Verhältniß des psc_214.004
Menschen zu Gott, zu andern Menschen, zu sich selbst.

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  Hier wären auf jedem Gebiet die Themata zu bezeichnen, psc_214.006
welche die Poesie thatsächlich behandelt hat, und die möglichen, psc_214.007
die sie behandeln könnte.

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  Und all diese werden individualisirt, d. h. an bestimmte psc_214.009
Jndividuen geknüpft, deren Charaktere dargestellt werden. psc_214.010
Ein gesetzmäßiges Verhalten findet statt zwischen bestimmten psc_214.011
Charakteren und bestimmten Handlungen. Die Poesie wird psc_214.012
der Forderung der Wahrheit und Wahrscheinlichkeit bei dem psc_214.013
Verhältniß zwischen Handlung und Charakter gerecht zu psc_214.014
werden suchen. Andererseits wird öfters auch ein scharfer Contrast psc_214.015
zwischen Charakter und Handlung gesucht; z. B. in Bulwers psc_214.016
„Eugen Aram“: ein Mörder, der sich später bekehrt hat psc_214.017
und eine Art Heiliger geworden ist. Aber der Wille des psc_214.018
Menschen ist unfrei, gebunden durch angeborene Charaktereigenschaften. psc_214.019
Deshalb eben muß die Poesie die nothwendige psc_214.020
Entsprechung von Charakter und Handlung respectiren.

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  Jch will nicht alle Gebiete herzählen, das können Sie psc_214.022
selber. Z. B. das große Gebiet der Liebe — heut als Nebenmotiv psc_214.023
mindestens unerschöpflich. Es fällt in das Gebiet vom psc_214.024
Verhältniß der Menschen unter einander:

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(vgl. Pönitentialbücher).

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[214/0230] psc_214.001 Pönitentialbücher und Beichten des Mittelalters; dazu die psc_214.002 Strafgesetzbücher alter und neuer Zeit. psc_214.003   Freilich vor allem ist wichtig: das Verhältniß des psc_214.004 Menschen zu Gott, zu andern Menschen, zu sich selbst. psc_214.005   Hier wären auf jedem Gebiet die Themata zu bezeichnen, psc_214.006 welche die Poesie thatsächlich behandelt hat, und die möglichen, psc_214.007 die sie behandeln könnte. psc_214.008   Und all diese werden individualisirt, d. h. an bestimmte psc_214.009 Jndividuen geknüpft, deren Charaktere dargestellt werden. psc_214.010 Ein gesetzmäßiges Verhalten findet statt zwischen bestimmten psc_214.011 Charakteren und bestimmten Handlungen. Die Poesie wird psc_214.012 der Forderung der Wahrheit und Wahrscheinlichkeit bei dem psc_214.013 Verhältniß zwischen Handlung und Charakter gerecht zu psc_214.014 werden suchen. Andererseits wird öfters auch ein scharfer Contrast psc_214.015 zwischen Charakter und Handlung gesucht; z. B. in Bulwers psc_214.016 „Eugen Aram“: ein Mörder, der sich später bekehrt hat psc_214.017 und eine Art Heiliger geworden ist. Aber der Wille des psc_214.018 Menschen ist unfrei, gebunden durch angeborene Charaktereigenschaften. psc_214.019 Deshalb eben muß die Poesie die nothwendige psc_214.020 Entsprechung von Charakter und Handlung respectiren. psc_214.021   Jch will nicht alle Gebiete herzählen, das können Sie psc_214.022 selber. Z. B. das große Gebiet der Liebe — heut als Nebenmotiv psc_214.023 mindestens unerschöpflich. Es fällt in das Gebiet vom psc_214.024 Verhältniß der Menschen unter einander: psc_214.025   Unnatürliche Liebe: z. B. La réligieuse von Diderot psc_214.026 (vgl. Pönitentialbücher). psc_214.027   Natürliche Liebe, erhörte oder unerhörte: psc_214.028 zu einem Mädchen;

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/230>, abgerufen am 24.04.2024.