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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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wird aus dem Sprachschatz herausgenommen behufs psc_012.002
augenblicklicher Verwendung.

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Viel selbständiger ist die Poesie dagegen in den anderen psc_012.004
Gattungen, dem Fest- und Tanzlied einerseits und dem psc_012.005
Märchen andererseits. Diese beiden andern sind anscheinend psc_012.006
die wichtigsten Typen der Dichtung überhaupt.

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Der Tanz des Chorliedes, soweit wir davon Kenntniß psc_012.008
haben, beruht auf dem Gehen, und die Tanzschritte sind die psc_012.009
Grundlage des Rhythmus. An die Tanzbewegungen aber psc_012.010
sind die Worte gebunden; selbst wenn in ihnen ein Wechsel psc_012.011
von Vor- und Rückbewegung herrscht, entspricht dem ein psc_012.012
Parallelismus der Worte. Jch zweifle nicht daran, daß die psc_012.013
Ansicht von der Entstehung des Rhythmus die richtige ist, psc_012.014
welche ihn aus dem Tanze herleitet. Für die Griechen weist schon psc_012.015
die rhythmische Terminologie darauf hin, daß der Rhythmus psc_012.016
Frucht des Tanzes ist; daher die Ausdrücke: arsis und thesis, psc_012.017
Hebung und Senkung. Der Rhythmus aber schafft erst das, psc_012.018
was wir gebundene Rede nennen; für diese ist er Typus und psc_012.019
Ursprung zugleich. Also: der Rhythmus hat seinen Ursprung psc_012.020
im Tanze, die gebundene Rede wieder im Rhythmus, so daß psc_012.021
demnach mittelbar auch sie im Tanz wurzelt. Diese gebundene psc_012.022
Rede aber ist eben zunächst jene Gattung aller Poesie, die psc_012.023
wir als Chorlied bezeichnen. Das ist die einzige Quelle, psc_012.024
aus der der Rhythmus, wenn wir die Sache im Großen ansehn, psc_012.025
herstammt: durch den Tanz des Chorliedes ist der psc_012.026
Rhythmus in die Welt gekommen.

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Und somit ist das Chorlied Ursprung der gebundenen psc_012.028
Rede
überhaupt.

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wird aus dem Sprachschatz herausgenommen behufs psc_012.002
augenblicklicher Verwendung.

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  Viel selbständiger ist die Poesie dagegen in den anderen psc_012.004
Gattungen, dem Fest- und Tanzlied einerseits und dem psc_012.005
Märchen andererseits. Diese beiden andern sind anscheinend psc_012.006
die wichtigsten Typen der Dichtung überhaupt.

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  Der Tanz des Chorliedes, soweit wir davon Kenntniß psc_012.008
haben, beruht auf dem Gehen, und die Tanzschritte sind die psc_012.009
Grundlage des Rhythmus. An die Tanzbewegungen aber psc_012.010
sind die Worte gebunden; selbst wenn in ihnen ein Wechsel psc_012.011
von Vor- und Rückbewegung herrscht, entspricht dem ein psc_012.012
Parallelismus der Worte. Jch zweifle nicht daran, daß die psc_012.013
Ansicht von der Entstehung des Rhythmus die richtige ist, psc_012.014
welche ihn aus dem Tanze herleitet. Für die Griechen weist schon psc_012.015
die rhythmische Terminologie darauf hin, daß der Rhythmus psc_012.016
Frucht des Tanzes ist; daher die Ausdrücke: ἄρσις und θέσις, psc_012.017
Hebung und Senkung. Der Rhythmus aber schafft erst das, psc_012.018
was wir gebundene Rede nennen; für diese ist er Typus und psc_012.019
Ursprung zugleich. Also: der Rhythmus hat seinen Ursprung psc_012.020
im Tanze, die gebundene Rede wieder im Rhythmus, so daß psc_012.021
demnach mittelbar auch sie im Tanz wurzelt. Diese gebundene psc_012.022
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wir als Chorlied bezeichnen. Das ist die einzige Quelle, psc_012.024
aus der der Rhythmus, wenn wir die Sache im Großen ansehn, psc_012.025
herstammt: durch den Tanz des Chorliedes ist der psc_012.026
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[12/0028] psc_012.001 wird aus dem Sprachschatz herausgenommen behufs psc_012.002 augenblicklicher Verwendung. psc_012.003   Viel selbständiger ist die Poesie dagegen in den anderen psc_012.004 Gattungen, dem Fest- und Tanzlied einerseits und dem psc_012.005 Märchen andererseits. Diese beiden andern sind anscheinend psc_012.006 die wichtigsten Typen der Dichtung überhaupt. psc_012.007   Der Tanz des Chorliedes, soweit wir davon Kenntniß psc_012.008 haben, beruht auf dem Gehen, und die Tanzschritte sind die psc_012.009 Grundlage des Rhythmus. An die Tanzbewegungen aber psc_012.010 sind die Worte gebunden; selbst wenn in ihnen ein Wechsel psc_012.011 von Vor- und Rückbewegung herrscht, entspricht dem ein psc_012.012 Parallelismus der Worte. Jch zweifle nicht daran, daß die psc_012.013 Ansicht von der Entstehung des Rhythmus die richtige ist, psc_012.014 welche ihn aus dem Tanze herleitet. Für die Griechen weist schon psc_012.015 die rhythmische Terminologie darauf hin, daß der Rhythmus psc_012.016 Frucht des Tanzes ist; daher die Ausdrücke: ἄρσις und θέσις, psc_012.017 Hebung und Senkung. Der Rhythmus aber schafft erst das, psc_012.018 was wir gebundene Rede nennen; für diese ist er Typus und psc_012.019 Ursprung zugleich. Also: der Rhythmus hat seinen Ursprung psc_012.020 im Tanze, die gebundene Rede wieder im Rhythmus, so daß psc_012.021 demnach mittelbar auch sie im Tanz wurzelt. Diese gebundene psc_012.022 Rede aber ist eben zunächst jene Gattung aller Poesie, die psc_012.023 wir als Chorlied bezeichnen. Das ist die einzige Quelle, psc_012.024 aus der der Rhythmus, wenn wir die Sache im Großen ansehn, psc_012.025 herstammt: durch den Tanz des Chorliedes ist der psc_012.026 Rhythmus in die Welt gekommen. psc_012.027   Und somit ist das Chorlied Ursprung der gebundenen psc_012.028 Rede überhaupt.

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/28>, abgerufen am 28.03.2024.