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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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"Jn der Gesahr ist bloße Wahrscheinlichkeit, in der Wahrscheinlichkeit psc_293.002
noch Hoffnung, Hoffnung aber giebt Muth, und dieser ist psc_293.003
Gefühl der Kraft, ein Reiz, der uns dem ungewissen Übel entgegengehen psc_293.004
heißt. Jst hingegen die Gefahr in wirkliches Unheil übergegangen, psc_293.005
wie hier, so tritt ein ganz anderer Zustand ein, aus dem psc_293.006
man sich dann ziehen muß, so gut man kann."

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So lang also der Held in Gefahr schwebt, ist das Vergnügen psc_293.008
der Spannung u. s. w. noch vorhanden. Kommt er in der Gefahr psc_293.009
um, so ist im Gesammteindruck, wenn man zurückblickt, das Unangenehme psc_293.010
der Katastrophe vielleicht überwogen durch das Angenehme psc_293.011
der Spannung vor der Katastrophe.

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Ursprung des Mythus S. 116: vgl. Vortr. u. Auff. S. 385.

psc_293.013

Aristokratische und demokratische Verfassung auf litterarischem psc_293.014
Gebiet
S. 129. Ausführlich handelt über diesen Gegensatz psc_293.015
ein merkwürdiges Blatt, dessen Inhalt ich zum grössten psc_293.016
Theile hersetze
:

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Das Geschichtenerzählen bei Tieck u. A., die verwilderten objectiven psc_293.018
Gespräche -- die Episode im Epos. Das alte epische Lied kennt sie nicht, psc_293.019
erst eine Zeit die bewundernd zurückblickt auf das Ganze, die das psc_293.020
unmittelbare moralische Jnteresse an den Stoffen eingebüßt hat und psc_293.021
für ein mittelbares künstlerisches (ästhetisches) gestimmt ist -- eine psc_293.022
"Zeit, die dazu Zeit hat", ohne Aufregungen des praktischen Lebens, psc_293.023
unmittelbar drängende Aufgaben der Öffentlichkeit.

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Von demokratischer Poesie als neuer Energie wissen wir noch psc_293.025
nichts, sie bereitet sich erst vor. -- Elemente dazu vorhanden. -- Aber psc_293.026
Blüthenepoche hat sie noch nicht erlebt. Die große neuere Poesie ist psc_293.027
die des Absolutismus, der Tyrannis. Die letzte deutsche classische psc_293.028
Epoche ist ein Nachklang der italienischen des 16. Jahrhunderts -- die psc_293.029
directen Einwirkungen wären zu studiren. Nachwirkungen der Stoffe psc_293.030
und Formen, vgl. z. B. "Emilia Galotti", Goethes "Tasso", Meißner psc_293.031
"Bianca Capello", Tiecks "Vittoria Accorombona" -- Sonett u. dgl. psc_293.032
Die beiden Ströme, der altdeutsche und der romanische in Deutschland, psc_293.033
wären sehr wohl zu unterscheiden und zu verfolgen -- das 18. und psc_293.034
19. Jahrhundert in Deutschland erkennt sich selbst wieder in den gesellschaftlichen

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  „Jn der Gesahr ist bloße Wahrscheinlichkeit, in der Wahrscheinlichkeit psc_293.002
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Gefühl der Kraft, ein Reiz, der uns dem ungewissen Übel entgegengehen psc_293.004
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  Ursprung des Mythus S. 116: vgl. Vortr. u. Auff. S. 385.

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für ein mittelbares künstlerisches (ästhetisches) gestimmt ist — eine psc_293.022
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„Bianca Capello“, Tiecks „Vittoria Accorombona“ — Sonett u. dgl. psc_293.032
Die beiden Ströme, der altdeutsche und der romanische in Deutschland, psc_293.033
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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/309>, abgerufen am 24.04.2024.