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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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(technischer Art): -- wachsender Gegensatz -- der Gegensatz psc_300.002
erfährt nun wieder allmälige Ausgleichung durch Mittheilung der psc_300.003
Schriftlitteratur an immer größere Kreise.

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Z. B. Kreuzzüge erwecken noch Sagen, aber es wird kein Epos psc_300.005
daraus, obgleich viele Bedingungen dazu vorhanden -- drum muß psc_300.006
das Thun des Einzelnen, der daraus Epos gestalten will, sich viel psc_300.007
mehr erlauben. Tasso! Gleichwohl ist es nur ein relativer Gegensatz, psc_300.008
vom Buchbinder an, der Volkslieder zusammenbindet, gleichsam bis psc_300.009
zum thätigsten bürgerlichen Kunstdichter des 16. Jahrhunderts -- aber psc_300.010
freilich im 18., in Goethe überwuchert das Erfundene ganz die geringe psc_300.011
volksthümliche Grundlage. Noch weniger zur Zeit der Freiheitskriege psc_300.012
ein Epos zu denken als zur Zeit der Kreuzzüge...

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In der Entwicklung des Epos selbst scheinen nun wieder psc_300.014
gewisse Momente typisch
. Z. B. das cyklische Moment fehlt wohl psc_300.015
beim Cid, und vielleicht sonst, bei Jren z. B. Nicht aber bei Russen psc_300.016
und überall nicht, wo etwa Tafelrunde zu Grunde liegt: Wladimir, psc_300.017
Dietrich von Bern -- den Schluss des cyklisch gewordenen Epos psc_300.018
bildet der Untergang aller Helden; so z. B. auch im persischen psc_300.019
Epos
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Das Nationalepos wird abgeschlossen zu einer bestimmten Zeit psc_300.021
und was nach der Zeit liegt, nicht mehr darin aufgenommen; mag es psc_300.022
an sich noch so groß und folgenreich, ja auch für sich ein Stoff der psc_300.023
Sagenbildung und epische Dichtung geworden sein: der epische Cyklus psc_300.024
bleibt exclusiv.... Wenn die Thaten der medischen und persischen psc_300.025
Könige in der altbaktrischen Poesie nicht verherrlicht wurden, obgleich psc_300.026
sich selbständige Sagenkreise um sie bildeten, so erkennen wir die vollkommene psc_300.027
Analogie in jenen longobardischen oder karolingisch=französischen psc_300.028
Dichtungen, von welchen das deutsche Volksepos nichts weiß. psc_300.029
Bewahrer der Tradition sind die Kreise des grundbesitzenden Adels psc_300.030
in Deutschland wie in Jran. Die Grenze für das griechische Epos psc_300.031
wird man, äußerlich bezeichnet, etwa in dem Emporkommen des delphischen psc_300.032
Orakels finden. Ein früher Versuch der Einmischung desselben psc_300.033
im Liede des Demodokos Od. 6, 75.

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Die Aufzeichnung des Khodai Name, der Quelle des Firdusi, psc_300.035
erinnert durch ihre prosaische Form an das umfassendste Corpus altdeutscher

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Schriftlitteratur an immer größere Kreise.

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  Z. B. Kreuzzüge erwecken noch Sagen, aber es wird kein Epos psc_300.005
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Dietrich von Bern — den Schluss des cyklisch gewordenen Epos psc_300.018
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Könige in der altbaktrischen Poesie nicht verherrlicht wurden, obgleich psc_300.026
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in Deutschland wie in Jran. Die Grenze für das griechische Epos psc_300.031
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Orakels finden. Ein früher Versuch der Einmischung desselben psc_300.033
im Liede des Demodokos Od. 6, 75.

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/316>, abgerufen am 25.04.2024.