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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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Ausdruck ins Auge, sowie selbstverständlich die metrische psc_041.002
Form, indem er zwar auf Grammatik und Metrik verweist, psc_041.003
aber doch einiges speciell der Poetik zugehörige erörtert, z. B. psc_041.004
die Eigenthümlichkeiten der poetischen Sprache, ihren Unterschied psc_041.005
von der Prosarede.

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Hauptsache und die Fabel, das Sujet, "die Handlung", wie psc_041.008
Lessing wohl sagen würde, wichtiger als die Charaktere. Bei psc_041.009
der Poesie im allgemeinen behandelt er den dichterischen Proceß psc_041.010
nur obenhin und nur bei der Tragödie legt er ihn näher psc_041.011
dar. Aber alle diese Dinge, obgleich an der Tragödie entwickelt, psc_041.012
wären einer Verallgemeinerung für Poesie überhaupt psc_041.013
fähig. Bezeichnend genug leider für die Art, wie diese Dinge psc_041.014
getrieben worden sind, ist es, daß trotz der Jahrhunderte lang psc_041.015
unantastbaren Autorität des Aristoteles niemand darauf ausgegangen psc_041.016
ist, seine Poetik in seinem eigenen Sinne zu ergänzen, psc_041.017
auszubauen. Lessing würde es vielleicht gethan haben, psc_041.018
wenn er zum Abschluß seiner ästhetischen Untersuchungen gelangt psc_041.019
wäre, denn seine Betrachtungsweise im Ganzen vergleicht psc_041.020
sich mit der des Aristoteles. Sein "Laokoon" in drei psc_041.021
Bänden hätte mit dem Beweise schließen sollen, daß die Tragödie psc_041.022
höher stehe als das Epos -- mit demselben Gedanken psc_041.023
also, mit dem für uns Aristoteles schließt; dies ist recht bezeichnend psc_041.024
für sein Verhältniß zu Aristoteles. Er würde aber psc_041.025
diesen Vorrang der Tragödie vor allen andern Dichtarten psc_041.026
viel strenger als Aristoteles (für uns!) motivirt haben und psc_041.027
zwar mittelst Ausbildung des aristotelischen Gedankens, daß psc_041.028
alle Poesie mimesis, "nachahmende Darstellung" sei; denn

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/57>, abgerufen am 25.04.2024.