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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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Was sonst noch über den Ursprung der Poesie vorgebracht psc_075.002
worden ist, ist wahrhaft kümmerlich. Die Aesthetik psc_075.003
hat sich fast gar nicht mehr darum gekümmert; Vischer z. B. psc_075.004
wirft, wie erwähnt, eine so empirische Frage gar nicht erst auf.

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Die Schwierigkeit der Frage oder wenigstens eine der psc_075.006
Schwierigkeiten liegt darin, daß wir, wenn wir von Poesie psc_075.007
sprechen, die Poesie nur anschauen dürfen als die Masse der psc_075.008
überhaupt vorhandenen Poesie, und daß wir, ehe wir eine psc_075.009
weitere Ansicht aufstellen, erst wissen müßten, in welcher Reihenfolge psc_075.010
die einzelnen Gattungen entstanden sind. Dann psc_075.011
wäre die älteste Gattung zu erforschen und zu untersuchen. psc_075.012
Eine solche Untersuchung giebt es aber noch nicht; und wir psc_075.013
können auch nur wenig über das relative Alter der einzelnen psc_075.014
Gattungen wissen. Freilich gewisse complicirte Formen, z. B. psc_075.015
die griechische Tragödie, die Epopöe, der Roman, das Pindarische psc_075.016
Lied u. a. scheiden als jüngere Entwicklungen sogleich psc_075.017
aus. Aber wenn man sie auch ausscheidet, bleibt doch noch psc_075.018
eine ziemliche Masse übrig; nur wenn diese relativ chronologisch psc_075.019
sich ordnen ließe, wäre eine gewisse Sicherheit vorhanden. psc_075.020
Davon kann bis jetzt nicht die Rede sein. Auch psc_075.021
wenn die Poesie der Naturvölker ganz genau bekannt wäre psc_075.022
und wir eine Stufenfolge hätten: es wäre bei verschiedenen psc_075.023
Völkern nur eine kleine Zahl poetischer Gattungen vorhanden, psc_075.024
und immer dieselben, die also für ursprünglich gehalten werden psc_075.025
müßten, und nun träten immer neue hinzu -- so wäre noch psc_075.026
immer Verkümmerung, Verlust bei jenen denkbar... Es ist psc_075.027
also nur ein Annäherungsverfahren möglich.

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Besinnen wir uns auf die heutige Erfahrung und scheuen

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  Was sonst noch über den Ursprung der Poesie vorgebracht psc_075.002
worden ist, ist wahrhaft kümmerlich. Die Aesthetik psc_075.003
hat sich fast gar nicht mehr darum gekümmert; Vischer z. B. psc_075.004
wirft, wie erwähnt, eine so empirische Frage gar nicht erst auf.

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  Die Schwierigkeit der Frage oder wenigstens eine der psc_075.006
Schwierigkeiten liegt darin, daß wir, wenn wir von Poesie psc_075.007
sprechen, die Poesie nur anschauen dürfen als die Masse der psc_075.008
überhaupt vorhandenen Poesie, und daß wir, ehe wir eine psc_075.009
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die einzelnen Gattungen entstanden sind. Dann psc_075.011
wäre die älteste Gattung zu erforschen und zu untersuchen. psc_075.012
Eine solche Untersuchung giebt es aber noch nicht; und wir psc_075.013
können auch nur wenig über das relative Alter der einzelnen psc_075.014
Gattungen wissen. Freilich gewisse complicirte Formen, z. B. psc_075.015
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Lied u. a. scheiden als jüngere Entwicklungen sogleich psc_075.017
aus. Aber wenn man sie auch ausscheidet, bleibt doch noch psc_075.018
eine ziemliche Masse übrig; nur wenn diese relativ chronologisch psc_075.019
sich ordnen ließe, wäre eine gewisse Sicherheit vorhanden. psc_075.020
Davon kann bis jetzt nicht die Rede sein. Auch psc_075.021
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und wir eine Stufenfolge hätten: es wäre bei verschiedenen psc_075.023
Völkern nur eine kleine Zahl poetischer Gattungen vorhanden, psc_075.024
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müßten, und nun träten immer neue hinzu — so wäre noch psc_075.026
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  Besinnen wir uns auf die heutige Erfahrung und scheuen

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[75/0091] psc_075.001   Was sonst noch über den Ursprung der Poesie vorgebracht psc_075.002 worden ist, ist wahrhaft kümmerlich. Die Aesthetik psc_075.003 hat sich fast gar nicht mehr darum gekümmert; Vischer z. B. psc_075.004 wirft, wie erwähnt, eine so empirische Frage gar nicht erst auf. psc_075.005   Die Schwierigkeit der Frage oder wenigstens eine der psc_075.006 Schwierigkeiten liegt darin, daß wir, wenn wir von Poesie psc_075.007 sprechen, die Poesie nur anschauen dürfen als die Masse der psc_075.008 überhaupt vorhandenen Poesie, und daß wir, ehe wir eine psc_075.009 weitere Ansicht aufstellen, erst wissen müßten, in welcher Reihenfolge psc_075.010 die einzelnen Gattungen entstanden sind. Dann psc_075.011 wäre die älteste Gattung zu erforschen und zu untersuchen. psc_075.012 Eine solche Untersuchung giebt es aber noch nicht; und wir psc_075.013 können auch nur wenig über das relative Alter der einzelnen psc_075.014 Gattungen wissen. Freilich gewisse complicirte Formen, z. B. psc_075.015 die griechische Tragödie, die Epopöe, der Roman, das Pindarische psc_075.016 Lied u. a. scheiden als jüngere Entwicklungen sogleich psc_075.017 aus. Aber wenn man sie auch ausscheidet, bleibt doch noch psc_075.018 eine ziemliche Masse übrig; nur wenn diese relativ chronologisch psc_075.019 sich ordnen ließe, wäre eine gewisse Sicherheit vorhanden. psc_075.020 Davon kann bis jetzt nicht die Rede sein. Auch psc_075.021 wenn die Poesie der Naturvölker ganz genau bekannt wäre psc_075.022 und wir eine Stufenfolge hätten: es wäre bei verschiedenen psc_075.023 Völkern nur eine kleine Zahl poetischer Gattungen vorhanden, psc_075.024 und immer dieselben, die also für ursprünglich gehalten werden psc_075.025 müßten, und nun träten immer neue hinzu — so wäre noch psc_075.026 immer Verkümmerung, Verlust bei jenen denkbar... Es ist psc_075.027 also nur ein Annäherungsverfahren möglich. psc_075.028   Besinnen wir uns auf die heutige Erfahrung und scheuen

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/91>, abgerufen am 25.04.2024.