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Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48.

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Theil des Kantischen Systems die herrschenden sind, sind nur die Philosophen entzweyt, aber die Menschen, ich getraue mir, es zu beweisen, von jeher einig gewesen. Man befreye sie von ihrer technischen Form, und sie werden als die verjährten Aussprüche der gemeinen Vernunft, und als Thatsachen des moralischen Instinktes erscheinen, den die weise Natur dem Menschen zum Vormund setzte, bis die helle Einsicht ihn mündig macht. Aber eben diese technische Form, welche die Wahrheit dem Verstande versichtbart, verbirgt sie wieder dem Gefühl; denn leider muß der Verstand das Objekt des innern Sinns erst zerstören, wenn er es sich zu eigen machen will. Wie der Scheidekünstler so findet auch der Philosoph nur durch Auflösung die Verbindung, und nur durch die Marter der Kunst das Werk der freywilligen Natur. Um die flüchtige Erscheinung zu haschen, muß er sie in die Fesseln der Regel schlagen, ihren schönen Körper in Begriffe zerfleischen, und in einem dürftigen Wortgerippe ihren lebendigen Geist aufbewahren. Ist es ein Wunder, wenn sich das natürliche Gefühl in einem solchen Abbild nicht wieder findet, und die Wahrheit in dem Berichte des Analysten als ein Paradoxon erscheint?

Lassen Sie daher auch mir einige Nachsicht zu Statten kommen, wenn die nachfolgenden Untersuchungen ihren Gegenstand, indem sie ihn dem Verstande zu nähern suchen, den Sinnen entrücken sollten. Was dort von moralischen Erfahrungen gilt, muß in einem noch höhern Grade von der Erscheinung der Schönheit gelten. Die ganze Magie derselben beruht auf ihrem Geheimniß, und mit dem nothwendigen Bund ihrer Elemente ist auch ihr Wesen aufgehoben.

Theil des Kantischen Systems die herrschenden sind, sind nur die Philosophen entzweyt, aber die Menschen, ich getraue mir, es zu beweisen, von jeher einig gewesen. Man befreye sie von ihrer technischen Form, und sie werden als die verjährten Aussprüche der gemeinen Vernunft, und als Thatsachen des moralischen Instinktes erscheinen, den die weise Natur dem Menschen zum Vormund setzte, bis die helle Einsicht ihn mündig macht. Aber eben diese technische Form, welche die Wahrheit dem Verstande versichtbart, verbirgt sie wieder dem Gefühl; denn leider muß der Verstand das Objekt des innern Sinns erst zerstören, wenn er es sich zu eigen machen will. Wie der Scheidekünstler so findet auch der Philosoph nur durch Auflösung die Verbindung, und nur durch die Marter der Kunst das Werk der freywilligen Natur. Um die flüchtige Erscheinung zu haschen, muß er sie in die Fesseln der Regel schlagen, ihren schönen Körper in Begriffe zerfleischen, und in einem dürftigen Wortgerippe ihren lebendigen Geist aufbewahren. Ist es ein Wunder, wenn sich das natürliche Gefühl in einem solchen Abbild nicht wieder findet, und die Wahrheit in dem Berichte des Analysten als ein Paradoxon erscheint?

Lassen Sie daher auch mir einige Nachsicht zu Statten kommen, wenn die nachfolgenden Untersuchungen ihren Gegenstand, indem sie ihn dem Verstande zu nähern suchen, den Sinnen entrücken sollten. Was dort von moralischen Erfahrungen gilt, muß in einem noch höhern Grade von der Erscheinung der Schönheit gelten. Die ganze Magie derselben beruht auf ihrem Geheimniß, und mit dem nothwendigen Bund ihrer Elemente ist auch ihr Wesen aufgehoben.

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Theil des Kantischen Systems die herrschenden sind, sind nur die Philosophen entzweyt, aber die Menschen, ich getraue mir, es zu beweisen, von jeher einig gewesen. Man befreye sie von ihrer technischen Form, und sie werden als die verjährten Aussprüche der gemeinen Vernunft, und als Thatsachen des moralischen Instinktes erscheinen, den die weise Natur dem Menschen zum Vormund setzte, bis die helle Einsicht ihn mündig macht. Aber eben diese technische Form, welche die Wahrheit dem Verstande versichtbart, verbirgt sie wieder dem Gefühl; denn leider muß der Verstand das Objekt des innern Sinns erst zerstören, wenn er es <hi rendition="#g">sich</hi> zu eigen machen will. Wie der Scheidekünstler so findet auch der Philosoph nur durch Auflösung die Verbindung, und nur durch die Marter der Kunst das Werk der freywilligen Natur. Um die flüchtige Erscheinung zu haschen, muß er sie in die Fesseln der Regel schlagen, ihren schönen Körper in Begriffe zerfleischen, und in einem dürftigen Wortgerippe ihren lebendigen Geist aufbewahren. Ist es ein Wunder, wenn sich das natürliche Gefühl in einem solchen Abbild nicht wieder findet, und die Wahrheit in dem Berichte des Analysten als ein Paradoxon erscheint?</p>
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[9/0003] Theil des Kantischen Systems die herrschenden sind, sind nur die Philosophen entzweyt, aber die Menschen, ich getraue mir, es zu beweisen, von jeher einig gewesen. Man befreye sie von ihrer technischen Form, und sie werden als die verjährten Aussprüche der gemeinen Vernunft, und als Thatsachen des moralischen Instinktes erscheinen, den die weise Natur dem Menschen zum Vormund setzte, bis die helle Einsicht ihn mündig macht. Aber eben diese technische Form, welche die Wahrheit dem Verstande versichtbart, verbirgt sie wieder dem Gefühl; denn leider muß der Verstand das Objekt des innern Sinns erst zerstören, wenn er es sich zu eigen machen will. Wie der Scheidekünstler so findet auch der Philosoph nur durch Auflösung die Verbindung, und nur durch die Marter der Kunst das Werk der freywilligen Natur. Um die flüchtige Erscheinung zu haschen, muß er sie in die Fesseln der Regel schlagen, ihren schönen Körper in Begriffe zerfleischen, und in einem dürftigen Wortgerippe ihren lebendigen Geist aufbewahren. Ist es ein Wunder, wenn sich das natürliche Gefühl in einem solchen Abbild nicht wieder findet, und die Wahrheit in dem Berichte des Analysten als ein Paradoxon erscheint? Lassen Sie daher auch mir einige Nachsicht zu Statten kommen, wenn die nachfolgenden Untersuchungen ihren Gegenstand, indem sie ihn dem Verstande zu nähern suchen, den Sinnen entrücken sollten. Was dort von moralischen Erfahrungen gilt, muß in einem noch höhern Grade von der Erscheinung der Schönheit gelten. Die ganze Magie derselben beruht auf ihrem Geheimniß, und mit dem nothwendigen Bund ihrer Elemente ist auch ihr Wesen aufgehoben.

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48, hier S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung01_1795/3>, abgerufen am 28.03.2024.