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Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94.

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größtmöglichste Selbständigkeit und Intensität seyn müssen. Je vielseitiger sich die Empfänglichkeit ausbildet, je beweglicher dieselbe ist und je mehr Fläche sie den Erscheinungen darbietet, desto mehr Welt ergreift der Mensch, desto mehr Anlagen entwickelt er in sich; je mehr Kraft und Tiefe die Persönlichkeit, je mehr Freyheit die Vernunft gewinnt, desto mehr Welt begreift der Mensch, desto mehr Form schafft er ausser sich. Seine Kultur wird also darin bestehen: erstlich: dem empfangenden Vermögen die vielfältigsten Berührungen mit der Welt zu verschaffen, und auf Seiten des Gefühls die Paßivität aufs höchste zu treiben: zweytens dem bestimmenden Vermögen die höchste Unabhängigkeit von dem empfangenden zu erwerben, und auf Seiten der Vernunft die Aktivität aufs höchste zu treiben. Wo beyde Eigenschaften sich vereinigen, da wird der Mensch mit der höchsten Fülle von Daseyn die höchste Selbständigkeit und Freyheit verbinden, und, anstatt sich an die Welt zu verlieren, diese vielmehr mit der ganzen Unendlichkeit ihrer Erscheinungen in sich ziehen und der Einheit seiner Vernunft unterwerfen.

Dieses Verhältniß nun kann der Mensch umkehren, und dadurch auf eine zweyfache Weise seine Bestimmung verfehlen. Er kann die Intensität, welche die thätige Kraft erheischt, auf die leidende legen, durch den Stachtrieb dem Formtriebe vorgreifen, und das empfangende Vermögen zum bestimmenden machen. Er kann die Extensität, welche der leidenden Kraft gebührt, der tätigen zutheilen, durch den Formtrieb dem Stofftrieb vorgreifen und dem empfangenden Vermögen das bestimmende unterschieben. In dem ersten Fall wird er nie Er selbst, in dem zweyten wird er nie etwas Anderes seyn, mit-

größtmöglichste Selbständigkeit und Intensität seyn müssen. Je vielseitiger sich die Empfänglichkeit ausbildet, je beweglicher dieselbe ist und je mehr Fläche sie den Erscheinungen darbietet, desto mehr Welt ergreift der Mensch, desto mehr Anlagen entwickelt er in sich; je mehr Kraft und Tiefe die Persönlichkeit, je mehr Freyheit die Vernunft gewinnt, desto mehr Welt begreift der Mensch, desto mehr Form schafft er ausser sich. Seine Kultur wird also darin bestehen: erstlich: dem empfangenden Vermögen die vielfältigsten Berührungen mit der Welt zu verschaffen, und auf Seiten des Gefühls die Paßivität aufs höchste zu treiben: zweytens dem bestimmenden Vermögen die höchste Unabhängigkeit von dem empfangenden zu erwerben, und auf Seiten der Vernunft die Aktivität aufs höchste zu treiben. Wo beyde Eigenschaften sich vereinigen, da wird der Mensch mit der höchsten Fülle von Daseyn die höchste Selbständigkeit und Freyheit verbinden, und, anstatt sich an die Welt zu verlieren, diese vielmehr mit der ganzen Unendlichkeit ihrer Erscheinungen in sich ziehen und der Einheit seiner Vernunft unterwerfen.

Dieses Verhältniß nun kann der Mensch umkehren, und dadurch auf eine zweyfache Weise seine Bestimmung verfehlen. Er kann die Intensität, welche die thätige Kraft erheischt, auf die leidende legen, durch den Stachtrieb dem Formtriebe vorgreifen, und das empfangende Vermögen zum bestimmenden machen. Er kann die Extensität, welche der leidenden Kraft gebührt, der tätigen zutheilen, durch den Formtrieb dem Stofftrieb vorgreifen und dem empfangenden Vermögen das bestimmende unterschieben. In dem ersten Fall wird er nie Er selbst, in dem zweyten wird er nie etwas Anderes seyn, mit-

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größtmöglichste Selbständigkeit und Intensität seyn müssen. Je vielseitiger sich die Empfänglichkeit ausbildet, je beweglicher dieselbe ist und je mehr Fläche sie den Erscheinungen darbietet, desto mehr Welt ergreift der Mensch, desto mehr Anlagen entwickelt er in sich; je mehr Kraft und Tiefe die Persönlichkeit, je mehr Freyheit die Vernunft gewinnt, desto mehr Welt begreift der Mensch, desto mehr Form schafft er ausser sich. Seine Kultur wird also darin bestehen: erstlich: dem empfangenden Vermögen die vielfältigsten Berührungen mit der Welt zu verschaffen, und auf Seiten des Gefühls die Paßivität aufs höchste zu treiben: zweytens dem bestimmenden Vermögen die höchste Unabhängigkeit von dem empfangenden zu erwerben, und auf Seiten der Vernunft die Aktivität aufs höchste zu treiben. Wo beyde Eigenschaften sich vereinigen, da wird der Mensch mit der höchsten Fülle von Daseyn die höchste Selbständigkeit und Freyheit verbinden, und, anstatt sich an die Welt zu verlieren, diese vielmehr mit der ganzen Unendlichkeit ihrer Erscheinungen in sich ziehen und der Einheit seiner Vernunft unterwerfen.</p>
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[72/0022] größtmöglichste Selbständigkeit und Intensität seyn müssen. Je vielseitiger sich die Empfänglichkeit ausbildet, je beweglicher dieselbe ist und je mehr Fläche sie den Erscheinungen darbietet, desto mehr Welt ergreift der Mensch, desto mehr Anlagen entwickelt er in sich; je mehr Kraft und Tiefe die Persönlichkeit, je mehr Freyheit die Vernunft gewinnt, desto mehr Welt begreift der Mensch, desto mehr Form schafft er ausser sich. Seine Kultur wird also darin bestehen: erstlich: dem empfangenden Vermögen die vielfältigsten Berührungen mit der Welt zu verschaffen, und auf Seiten des Gefühls die Paßivität aufs höchste zu treiben: zweytens dem bestimmenden Vermögen die höchste Unabhängigkeit von dem empfangenden zu erwerben, und auf Seiten der Vernunft die Aktivität aufs höchste zu treiben. Wo beyde Eigenschaften sich vereinigen, da wird der Mensch mit der höchsten Fülle von Daseyn die höchste Selbständigkeit und Freyheit verbinden, und, anstatt sich an die Welt zu verlieren, diese vielmehr mit der ganzen Unendlichkeit ihrer Erscheinungen in sich ziehen und der Einheit seiner Vernunft unterwerfen. Dieses Verhältniß nun kann der Mensch umkehren, und dadurch auf eine zweyfache Weise seine Bestimmung verfehlen. Er kann die Intensität, welche die thätige Kraft erheischt, auf die leidende legen, durch den Stachtrieb dem Formtriebe vorgreifen, und das empfangende Vermögen zum bestimmenden machen. Er kann die Extensität, welche der leidenden Kraft gebührt, der tätigen zutheilen, durch den Formtrieb dem Stofftrieb vorgreifen und dem empfangenden Vermögen das bestimmende unterschieben. In dem ersten Fall wird er nie Er selbst, in dem zweyten wird er nie etwas Anderes seyn, mit-

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94, hier S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung02_1795/22>, abgerufen am 29.03.2024.