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Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94.

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reif, die Kunst noch in ihrer Kindheit, und es fehlte noch viel, dass die Schönheit die Gemüther beherrschte. Zwar hatte die Dichtkunst schon einen erhabnen Flug gethan, aber nur mit den Schwingen des Genies, von dem wir wissen, daß es am nächsten an die Wildheit grenzt, und ein Licht ist, das gern aus der Finsterniß schimmert; welches also vielmehr gegen den Geschmack seines Zeitalters als für denselben zeugt. Als unter dem Perikles und Alexander das goldne Alter der Künste herbeykam, und die Herrschaft des Geschmacks sich allgemeiner verbreitete, findet man Griechenlands Kraft und Freyheit nicht mehr, die Beredsamkeit verfälschte die Wahrheit, die Weisheit beleidigte in dem Mund eines Sokrates, und die Tugend in dem Leben eines Phocion. Die Römer, wissen wir, mußten erst in den bürgerlichen Kriegen ihre Kraft erschöpfen, und durch morgenländische Üppigkeit entmannt, unter das Joch eines glücklichen Dynasten sich beugen, ehe wir die griechische Kunst über die Rigidität ihres Charakters triumphieren sehen. Auch den Arabern gieng die Morgenröthe der Kultur nicht eher auf, als bis die Energie ihres kriegerischen Geistes unter dem Scepter der Abbaßiden erschlafft war. In dem neuern Italien zeigte sich die schöne Kunst nicht eher, als nachdem der herrliche Bund der Lombarden zerrissen war, Florenz sich den Medicäern unterworfen, und der Geist der Unabhängigkeit in allen jenen muthvollen Städten einer unrühmlichen Ergebung Platz gemacht hatte. Es ist beynahe überflüssig, noch an das Beyspiel der neuern Nationen zu erinnern, deren Verfeinerung in demselben Verhältnisse zunahm, als ihre Selbstständigkeit endigte. Wohin wir immer in der vergangenen Welt unsere Augen richten, da finden wir, daß Geschmack und Freyheit einander fliehen, und daß die

reif, die Kunst noch in ihrer Kindheit, und es fehlte noch viel, dass die Schönheit die Gemüther beherrschte. Zwar hatte die Dichtkunst schon einen erhabnen Flug gethan, aber nur mit den Schwingen des Genies, von dem wir wissen, daß es am nächsten an die Wildheit grenzt, und ein Licht ist, das gern aus der Finsterniß schimmert; welches also vielmehr gegen den Geschmack seines Zeitalters als für denselben zeugt. Als unter dem Perikles und Alexander das goldne Alter der Künste herbeykam, und die Herrschaft des Geschmacks sich allgemeiner verbreitete, findet man Griechenlands Kraft und Freyheit nicht mehr, die Beredsamkeit verfälschte die Wahrheit, die Weisheit beleidigte in dem Mund eines Sokrates, und die Tugend in dem Leben eines Phocion. Die Römer, wissen wir, mußten erst in den bürgerlichen Kriegen ihre Kraft erschöpfen, und durch morgenländische Üppigkeit entmannt, unter das Joch eines glücklichen Dynasten sich beugen, ehe wir die griechische Kunst über die Rigidität ihres Charakters triumphieren sehen. Auch den Arabern gieng die Morgenröthe der Kultur nicht eher auf, als bis die Energie ihres kriegerischen Geistes unter dem Scepter der Abbaßiden erschlafft war. In dem neuern Italien zeigte sich die schöne Kunst nicht eher, als nachdem der herrliche Bund der Lombarden zerrissen war, Florenz sich den Medicäern unterworfen, und der Geist der Unabhängigkeit in allen jenen muthvollen Städten einer unrühmlichen Ergebung Platz gemacht hatte. Es ist beynahe überflüssig, noch an das Beyspiel der neuern Nationen zu erinnern, deren Verfeinerung in demselben Verhältnisse zunahm, als ihre Selbstständigkeit endigte. Wohin wir immer in der vergangenen Welt unsere Augen richten, da finden wir, daß Geschmack und Freyheit einander fliehen, und daß die

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[55/0005] reif, die Kunst noch in ihrer Kindheit, und es fehlte noch viel, dass die Schönheit die Gemüther beherrschte. Zwar hatte die Dichtkunst schon einen erhabnen Flug gethan, aber nur mit den Schwingen des Genies, von dem wir wissen, daß es am nächsten an die Wildheit grenzt, und ein Licht ist, das gern aus der Finsterniß schimmert; welches also vielmehr gegen den Geschmack seines Zeitalters als für denselben zeugt. Als unter dem Perikles und Alexander das goldne Alter der Künste herbeykam, und die Herrschaft des Geschmacks sich allgemeiner verbreitete, findet man Griechenlands Kraft und Freyheit nicht mehr, die Beredsamkeit verfälschte die Wahrheit, die Weisheit beleidigte in dem Mund eines Sokrates, und die Tugend in dem Leben eines Phocion. Die Römer, wissen wir, mußten erst in den bürgerlichen Kriegen ihre Kraft erschöpfen, und durch morgenländische Üppigkeit entmannt, unter das Joch eines glücklichen Dynasten sich beugen, ehe wir die griechische Kunst über die Rigidität ihres Charakters triumphieren sehen. Auch den Arabern gieng die Morgenröthe der Kultur nicht eher auf, als bis die Energie ihres kriegerischen Geistes unter dem Scepter der Abbaßiden erschlafft war. In dem neuern Italien zeigte sich die schöne Kunst nicht eher, als nachdem der herrliche Bund der Lombarden zerrissen war, Florenz sich den Medicäern unterworfen, und der Geist der Unabhängigkeit in allen jenen muthvollen Städten einer unrühmlichen Ergebung Platz gemacht hatte. Es ist beynahe überflüssig, noch an das Beyspiel der neuern Nationen zu erinnern, deren Verfeinerung in demselben Verhältnisse zunahm, als ihre Selbstständigkeit endigte. Wohin wir immer in der vergangenen Welt unsere Augen richten, da finden wir, daß Geschmack und Freyheit einander fliehen, und daß die

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94, hier S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung02_1795/5>, abgerufen am 29.03.2024.