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Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94.

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Schönheit nur auf den Untergang heroischer Tugenden
ihre Herrschaft gründet.

Und doch ist gerade diese Energie des Charakters, mit
welcher die ästhetische Kultur gewöhnlich erkaufft wird,
die wirksamste Feder alles Grossen und Treflichen im Men-
schen, deren Mangel kein anderer wenn auch noch so gros-
ser Vorzug ersetzen kann. Hält man sich also einzig nur
an das, was die bisherigen Erfahrungen über den Einfluß
der Schönheit lehren, so kann man in der That nicht sehr
aufgemuntert seyn, Gefühle auszubilden, die der wahren
Kultur des Menschen so gefährlich sind; und lieber wird
man, auf die Gefahr der Rohigkeit und Härte, die schmel-
zende Kraft der Schönheit entbehren, als sich bey allen
Vortheilen der Verfeinerung ihren erschlaffenden Wirkun-
gen überliefert sehen. Aber vielleicht ist die Erfahrung
der Richterstuhl nicht, vor welchem sich eine Frage wie
diese ausmachen läßt, und ehe man ihrem Zeugniß Ge-
wicht einräumte, müßte erst ausser Zweifel gesetzt seyn,
daß es dieselbe Schönheit ist, von der wir reden, und
gegen welche jene Beyspiele zeugen. Dieß scheint aber ei-
nen Begriff der Schönheit voraus zu setzen, der eine an-
dere Quelle hat, als die Erfahrung, weil durch denselben
erkannt werden soll, ob das, was in der Erfahrung
schön heißt, mit Recht diesen Nahmen führe.

Dieser reine Vernunftbegriff der Schönheit,
wenn ein solcher sich aufzeigen liesse, müsste also - weil
er aus keinem wirklichen Falle geschöpft werden kann,
vielmehr unser Urtheil über jeden wirklichen Fall erst be-
richtigt und leitet - auf dem Wege der Abstraktion ge-
sucht, und schon aus der Möglichkeit der sinnlichvernünf-

Schönheit nur auf den Untergang heroischer Tugenden
ihre Herrschaft gründet.

Und doch ist gerade diese Energie des Charakters, mit
welcher die ästhetische Kultur gewöhnlich erkaufft wird,
die wirksamste Feder alles Grossen und Treflichen im Men-
schen, deren Mangel kein anderer wenn auch noch so gros-
ser Vorzug ersetzen kann. Hält man sich also einzig nur
an das, was die bisherigen Erfahrungen über den Einfluß
der Schönheit lehren, so kann man in der That nicht sehr
aufgemuntert seyn, Gefühle auszubilden, die der wahren
Kultur des Menschen so gefährlich sind; und lieber wird
man, auf die Gefahr der Rohigkeit und Härte, die schmel-
zende Kraft der Schönheit entbehren, als sich bey allen
Vortheilen der Verfeinerung ihren erschlaffenden Wirkun-
gen überliefert sehen. Aber vielleicht ist die Erfahrung
der Richterstuhl nicht, vor welchem sich eine Frage wie
diese ausmachen läßt, und ehe man ihrem Zeugniß Ge-
wicht einräumte, müßte erst ausser Zweifel gesetzt seyn,
daß es dieselbe Schönheit ist, von der wir reden, und
gegen welche jene Beyspiele zeugen. Dieß scheint aber ei-
nen Begriff der Schönheit voraus zu setzen, der eine an-
dere Quelle hat, als die Erfahrung, weil durch denselben
erkannt werden soll, ob das, was in der Erfahrung
schön heißt, mit Recht diesen Nahmen führe.

Dieser reine Vernunftbegriff der Schönheit,
wenn ein solcher sich aufzeigen liesse, müsste also – weil
er aus keinem wirklichen Falle geschöpft werden kann,
vielmehr unser Urtheil über jeden wirklichen Fall erst be-
richtigt und leitet – auf dem Wege der Abstraktion ge-
sucht, und schon aus der Möglichkeit der sinnlichvernünf-

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[56/0006] Schönheit nur auf den Untergang heroischer Tugenden ihre Herrschaft gründet. Und doch ist gerade diese Energie des Charakters, mit welcher die ästhetische Kultur gewöhnlich erkaufft wird, die wirksamste Feder alles Grossen und Treflichen im Men- schen, deren Mangel kein anderer wenn auch noch so gros- ser Vorzug ersetzen kann. Hält man sich also einzig nur an das, was die bisherigen Erfahrungen über den Einfluß der Schönheit lehren, so kann man in der That nicht sehr aufgemuntert seyn, Gefühle auszubilden, die der wahren Kultur des Menschen so gefährlich sind; und lieber wird man, auf die Gefahr der Rohigkeit und Härte, die schmel- zende Kraft der Schönheit entbehren, als sich bey allen Vortheilen der Verfeinerung ihren erschlaffenden Wirkun- gen überliefert sehen. Aber vielleicht ist die Erfahrung der Richterstuhl nicht, vor welchem sich eine Frage wie diese ausmachen läßt, und ehe man ihrem Zeugniß Ge- wicht einräumte, müßte erst ausser Zweifel gesetzt seyn, daß es dieselbe Schönheit ist, von der wir reden, und gegen welche jene Beyspiele zeugen. Dieß scheint aber ei- nen Begriff der Schönheit voraus zu setzen, der eine an- dere Quelle hat, als die Erfahrung, weil durch denselben erkannt werden soll, ob das, was in der Erfahrung schön heißt, mit Recht diesen Nahmen führe. Dieser reine Vernunftbegriff der Schönheit, wenn ein solcher sich aufzeigen liesse, müsste also – weil er aus keinem wirklichen Falle geschöpft werden kann, vielmehr unser Urtheil über jeden wirklichen Fall erst be- richtigt und leitet – auf dem Wege der Abstraktion ge- sucht, und schon aus der Möglichkeit der sinnlichvernünf-

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94, hier S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung02_1795/6>, abgerufen am 29.03.2024.