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Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124.

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Fünf und zwanzigster Brief.

Solange der Mensch, in seinem ersten physischen Zustande, die Sinnenwelt bloß leidend in sich aufnimmt, bloß empfindet, ist er auch noch völlig Eins mit derselben, und eben weil er selbst bloß Welt ist, so ist für ihn noch keine Welt. Erst, wenn er in seinem ästhetischen Stande, sie ausser sich stellt oder betrachtet, sondert sich seine Persönlichkeit von ihr ab, und es erscheint ihm eine Welt, weil er aufgehört hat, mit derselben Eins auszumachen.*

* Ich erinnere noch einmal, daß diese beyden Perioden zwar in der Idee nothwendig von einander zu trennen sind, in der Erfahrung aber sich mehr oder weniger vermischen. Auch muß man nicht denken, als ob es eine Zeit gegeben habe, wo der Mensch nur in diesem physischen Stande sich befunden, und eine Zeit, wo er sich ganz von demselben losgemacht hätte. Sobald der Mensch einen Gegenstand sieht, so ist er schon nicht mehr in einem bloß physischen Zustand, und solang er fortfahren wird, einen Gegenstand zu sehen, wird er auch jenem physischen Stand nicht entlaufen, weil er ja nur sehen kann, insofern er empfindet. Jene drey Momente, welche ich am Anfang des 24sten Briefs nahmhaft machte, sind also zwar im Ganzen betrachtet, drey verschiedene Epochen für die Entwicklung der ganzen Menschheit, und für die ganze Entwicklung eines einzelnen Menschen, aber sie lassen sich auch
Fünf und zwanzigster Brief.

Solange der Mensch, in seinem ersten physischen Zustande, die Sinnenwelt bloß leidend in sich aufnimmt, bloß empfindet, ist er auch noch völlig Eins mit derselben, und eben weil er selbst bloß Welt ist, so ist für ihn noch keine Welt. Erst, wenn er in seinem ästhetischen Stande, sie ausser sich stellt oder betrachtet, sondert sich seine Persönlichkeit von ihr ab, und es erscheint ihm eine Welt, weil er aufgehört hat, mit derselben Eins auszumachen.*

* Ich erinnere noch einmal, daß diese beyden Perioden zwar in der Idee nothwendig von einander zu trennen sind, in der Erfahrung aber sich mehr oder weniger vermischen. Auch muß man nicht denken, als ob es eine Zeit gegeben habe, wo der Mensch nur in diesem physischen Stande sich befunden, und eine Zeit, wo er sich ganz von demselben losgemacht hätte. Sobald der Mensch einen Gegenstand sieht, so ist er schon nicht mehr in einem bloß physischen Zustand, und solang er fortfahren wird, einen Gegenstand zu sehen, wird er auch jenem physischen Stand nicht entlaufen, weil er ja nur sehen kann, insofern er empfindet. Jene drey Momente, welche ich am Anfang des 24sten Briefs nahmhaft machte, sind also zwar im Ganzen betrachtet, drey verschiedene Epochen für die Entwicklung der ganzen Menschheit, und für die ganze Entwicklung eines einzelnen Menschen, aber sie lassen sich auch
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[95/0051] Fünf und zwanzigster Brief. Solange der Mensch, in seinem ersten physischen Zustande, die Sinnenwelt bloß leidend in sich aufnimmt, bloß empfindet, ist er auch noch völlig Eins mit derselben, und eben weil er selbst bloß Welt ist, so ist für ihn noch keine Welt. Erst, wenn er in seinem ästhetischen Stande, sie ausser sich stellt oder betrachtet, sondert sich seine Persönlichkeit von ihr ab, und es erscheint ihm eine Welt, weil er aufgehört hat, mit derselben Eins auszumachen. * * Ich erinnere noch einmal, daß diese beyden Perioden zwar in der Idee nothwendig von einander zu trennen sind, in der Erfahrung aber sich mehr oder weniger vermischen. Auch muß man nicht denken, als ob es eine Zeit gegeben habe, wo der Mensch nur in diesem physischen Stande sich befunden, und eine Zeit, wo er sich ganz von demselben losgemacht hätte. Sobald der Mensch einen Gegenstand sieht, so ist er schon nicht mehr in einem bloß physischen Zustand, und solang er fortfahren wird, einen Gegenstand zu sehen, wird er auch jenem physischen Stand nicht entlaufen, weil er ja nur sehen kann, insofern er empfindet. Jene drey Momente, welche ich am Anfang des 24sten Briefs nahmhaft machte, sind also zwar im Ganzen betrachtet, drey verschiedene Epochen für die Entwicklung der ganzen Menschheit, und für die ganze Entwicklung eines einzelnen Menschen, aber sie lassen sich auch

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124, hier S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung03_1795/51>, abgerufen am 19.03.2024.