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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.

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Wie in dem handelnden Leben so begegnet es auch oft
bey dichterischen Darstellungen, den bloß leichten Sinn,
das angenehme Talent, die fröhliche Gutmüthigkeit mit
Schönheit der Seele zu verwechseln, und da sich der ge-
meine Geschmack überhaupt nie über das Angenehme er-
hebt, so ist es solchen niedlichen Geistern ein leichtes,
jenen Ruhm zu usurpieren, der so schwer zu verdienen ist.
Aber es giebt eine untrügliche Probe, vermittelst deren
man die Leichtigkeit des Naturells von der Leichtigkeit
des Ideals, so wie die Tugend des Temperaments von
der wahrhaften Sittlichkeit des Charakters unterscheiden
kann, und diese ist, wenn beyde sich an einem schwürigen
und großen Objekte versuchen. In einem solchen Fall geht
das niedliche Genie unfehlbar in das Platte, so wie die
Temperamentstugend in das Materielle, die wahrhaft schö-
ne Seele hingegen geht eben so gewiß in die erhabene über.

So lange Lucian bloß die Ungereimtheit züchtigt,
wie in den Wünschen, in den Lapithen, in dem Jupiter,
Tragödus u. a. bleibt er Spötter, und ergötzt uns mit
seinem fröhlichen Humor; aber es wird ein ganz anderer
Mann aus ihm in vielen Stellen seines Nigrinus, seines
Timons, seines Alexander, wo seine Satyre auch die mo-
ralische Verderbniß trift. "Unglückseliger", so beginnt
er in seinem Nigrinus das empörende Gemählde des da-
maligen Roms, "warum verliessest du das Licht der Son-
ne, Griechenland, und jenes glükliche Leben der Frey-
heit, und kammst hieher in dieß Getümmel von prachtvol-
ler Dienstbarkeit, von Aufwartungen und Gastmälern,
von Sykophanten, Schmeichlern, Giftmischern, Erb-
schleichern und falschen Freunden? u. s. w." Bey solchen
und ähnlichen Anlässen muß sich der hohe Ernst des Ge-

Wie in dem handelnden Leben ſo begegnet es auch oft
bey dichteriſchen Darſtellungen, den bloß leichten Sinn,
das angenehme Talent, die froͤhliche Gutmuͤthigkeit mit
Schoͤnheit der Seele zu verwechſeln, und da ſich der ge-
meine Geſchmack uͤberhaupt nie uͤber das Angenehme er-
hebt, ſo iſt es ſolchen niedlichen Geiſtern ein leichtes,
jenen Ruhm zu uſurpieren, der ſo ſchwer zu verdienen iſt.
Aber es giebt eine untruͤgliche Probe, vermittelſt deren
man die Leichtigkeit des Naturells von der Leichtigkeit
des Ideals, ſo wie die Tugend des Temperaments von
der wahrhaften Sittlichkeit des Charakters unterſcheiden
kann, und dieſe iſt, wenn beyde ſich an einem ſchwuͤrigen
und großen Objekte verſuchen. In einem ſolchen Fall geht
das niedliche Genie unfehlbar in das Platte, ſo wie die
Temperamentstugend in das Materielle, die wahrhaft ſchoͤ-
ne Seele hingegen geht eben ſo gewiß in die erhabene uͤber.

So lange Lucian bloß die Ungereimtheit zuͤchtigt,
wie in den Wuͤnſchen, in den Lapithen, in dem Jupiter,
Tragoͤdus u. a. bleibt er Spoͤtter, und ergoͤtzt uns mit
ſeinem froͤhlichen Humor; aber es wird ein ganz anderer
Mann aus ihm in vielen Stellen ſeines Nigrinus, ſeines
Timons, ſeines Alexander, wo ſeine Satyre auch die mo-
raliſche Verderbniß trift. „Ungluͤckſeliger”, ſo beginnt
er in ſeinem Nigrinus das empoͤrende Gemaͤhlde des da-
maligen Roms, „warum verlieſſeſt du das Licht der Son-
ne, Griechenland, und jenes gluͤkliche Leben der Frey-
heit, und kammſt hieher in dieß Getuͤmmel von prachtvol-
ler Dienſtbarkeit, von Aufwartungen und Gaſtmaͤlern,
von Sykophanten, Schmeichlern, Giftmiſchern, Erb-
ſchleichern und falſchen Freunden? u. ſ. w.” Bey ſolchen
und aͤhnlichen Anlaͤſſen muß ſich der hohe Ernſt des Ge-

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[18/0025] Wie in dem handelnden Leben ſo begegnet es auch oft bey dichteriſchen Darſtellungen, den bloß leichten Sinn, das angenehme Talent, die froͤhliche Gutmuͤthigkeit mit Schoͤnheit der Seele zu verwechſeln, und da ſich der ge- meine Geſchmack uͤberhaupt nie uͤber das Angenehme er- hebt, ſo iſt es ſolchen niedlichen Geiſtern ein leichtes, jenen Ruhm zu uſurpieren, der ſo ſchwer zu verdienen iſt. Aber es giebt eine untruͤgliche Probe, vermittelſt deren man die Leichtigkeit des Naturells von der Leichtigkeit des Ideals, ſo wie die Tugend des Temperaments von der wahrhaften Sittlichkeit des Charakters unterſcheiden kann, und dieſe iſt, wenn beyde ſich an einem ſchwuͤrigen und großen Objekte verſuchen. In einem ſolchen Fall geht das niedliche Genie unfehlbar in das Platte, ſo wie die Temperamentstugend in das Materielle, die wahrhaft ſchoͤ- ne Seele hingegen geht eben ſo gewiß in die erhabene uͤber. So lange Lucian bloß die Ungereimtheit zuͤchtigt, wie in den Wuͤnſchen, in den Lapithen, in dem Jupiter, Tragoͤdus u. a. bleibt er Spoͤtter, und ergoͤtzt uns mit ſeinem froͤhlichen Humor; aber es wird ein ganz anderer Mann aus ihm in vielen Stellen ſeines Nigrinus, ſeines Timons, ſeines Alexander, wo ſeine Satyre auch die mo- raliſche Verderbniß trift. „Ungluͤckſeliger”, ſo beginnt er in ſeinem Nigrinus das empoͤrende Gemaͤhlde des da- maligen Roms, „warum verlieſſeſt du das Licht der Son- ne, Griechenland, und jenes gluͤkliche Leben der Frey- heit, und kammſt hieher in dieß Getuͤmmel von prachtvol- ler Dienſtbarkeit, von Aufwartungen und Gaſtmaͤlern, von Sykophanten, Schmeichlern, Giftmiſchern, Erb- ſchleichern und falſchen Freunden? u. ſ. w.” Bey ſolchen und aͤhnlichen Anlaͤſſen muß ſich der hohe Ernſt des Ge-

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55, hier S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/25>, abgerufen am 29.03.2024.