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Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26. 5. 1789 ). Jena, 1789.

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Augen das große Gemählde der Zeiten und Völker aus-
einander breitet, wird sie die vorschnellen Entscheidun-
gen des Augenblicks, und die beschränkten Urtheile
der Selbstsucht verbessern. Indem sie den Menschen
gewöhnt, sich mit der ganzen Vergangenheit zusammen
zu faßen, und mit seinen Schlüssen in die ferne Zu-
kunft voraus zu eilen: so verbirgt sie die Grenzen
von Geburt und Tod, die das Leben des Menschen
so eng und so drückend umschliessen, so breitet sie
optisch täuschend sein kurzes Daseyn in einen unendli-
chen Raum aus, und führt das Individuum unver-
merkt in die Gattung hinüber.

Der Mensch verwandelt sich und flieht von der
Bühne; seine Meynungen fliehen und verwandeln
sich mit ihm: die Geschichte allein bleibt unausgesetzt
auf dem Schauplatz, eine unsterbliche Bürgerin aller
Nationen und Zeiten. Wie der homerische Zeus sieht
sie mit gleich heitern Blicke auf die blutigen Arbeiten
des Kriegs, und auf die friedlichen Völker herab, die
sich von der Milch ihrer Heerden schuldlos ernähren.
Wie regellos auch die Freyheit des Menschen mit dem
Weltlauf zu schalten scheine, ruhig sieht sie dem ver-
worrenen Spiele zu: denn ihr weitreichender Blick
entdeckt schon von ferne, wo diese regellos schweifen-
de Freyheit am Bande der Nothwendigkeit geleitet wird.
Was sie dem strafenden Gewissen eines Gregors und
Cromwells geheim hält, eilt sie der Menschheit zu of-

fenba-

Augen das große Gemaͤhlde der Zeiten und Voͤlker aus-
einander breitet, wird ſie die vorſchnellen Entſcheidun-
gen des Augenblicks, und die beſchraͤnkten Urtheile
der Selbſtſucht verbeſſern. Indem ſie den Menſchen
gewoͤhnt, ſich mit der ganzen Vergangenheit zuſammen
zu faßen, und mit ſeinen Schluͤſſen in die ferne Zu-
kunft voraus zu eilen: ſo verbirgt ſie die Grenzen
von Geburt und Tod, die das Leben des Menſchen
ſo eng und ſo druͤckend umſchlieſſen, ſo breitet ſie
optiſch taͤuſchend ſein kurzes Daſeyn in einen unendli-
chen Raum aus, und fuͤhrt das Individuum unver-
merkt in die Gattung hinuͤber.

Der Menſch verwandelt ſich und flieht von der
Buͤhne; ſeine Meynungen fliehen und verwandeln
ſich mit ihm: die Geſchichte allein bleibt unausgeſetzt
auf dem Schauplatz, eine unſterbliche Buͤrgerin aller
Nationen und Zeiten. Wie der homeriſche Zeus ſieht
ſie mit gleich heitern Blicke auf die blutigen Arbeiten
des Kriegs, und auf die friedlichen Voͤlker herab, die
ſich von der Milch ihrer Heerden ſchuldlos ernaͤhren.
Wie regellos auch die Freyheit des Menſchen mit dem
Weltlauf zu ſchalten ſcheine, ruhig ſieht ſie dem ver-
worrenen Spiele zu: denn ihr weitreichender Blick
entdeckt ſchon von ferne, wo dieſe regellos ſchweifen-
de Freyheit am Bande der Nothwendigkeit geleitet wird.
Was ſie dem ſtrafenden Gewiſſen eines Gregors und
Cromwells geheim haͤlt, eilt ſie der Menſchheit zu of-

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[30/0032] Augen das große Gemaͤhlde der Zeiten und Voͤlker aus- einander breitet, wird ſie die vorſchnellen Entſcheidun- gen des Augenblicks, und die beſchraͤnkten Urtheile der Selbſtſucht verbeſſern. Indem ſie den Menſchen gewoͤhnt, ſich mit der ganzen Vergangenheit zuſammen zu faßen, und mit ſeinen Schluͤſſen in die ferne Zu- kunft voraus zu eilen: ſo verbirgt ſie die Grenzen von Geburt und Tod, die das Leben des Menſchen ſo eng und ſo druͤckend umſchlieſſen, ſo breitet ſie optiſch taͤuſchend ſein kurzes Daſeyn in einen unendli- chen Raum aus, und fuͤhrt das Individuum unver- merkt in die Gattung hinuͤber. Der Menſch verwandelt ſich und flieht von der Buͤhne; ſeine Meynungen fliehen und verwandeln ſich mit ihm: die Geſchichte allein bleibt unausgeſetzt auf dem Schauplatz, eine unſterbliche Buͤrgerin aller Nationen und Zeiten. Wie der homeriſche Zeus ſieht ſie mit gleich heitern Blicke auf die blutigen Arbeiten des Kriegs, und auf die friedlichen Voͤlker herab, die ſich von der Milch ihrer Heerden ſchuldlos ernaͤhren. Wie regellos auch die Freyheit des Menſchen mit dem Weltlauf zu ſchalten ſcheine, ruhig ſieht ſie dem ver- worrenen Spiele zu: denn ihr weitreichender Blick entdeckt ſchon von ferne, wo dieſe regellos ſchweifen- de Freyheit am Bande der Nothwendigkeit geleitet wird. Was ſie dem ſtrafenden Gewiſſen eines Gregors und Cromwells geheim haͤlt, eilt ſie der Menſchheit zu of- fenba-

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26. 5. 1789 ). Jena, 1789, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_universalgeschichte_1789/32>, abgerufen am 25.04.2024.