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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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300 Pflanzenfamilien die Familie der Gräser allein 1/20, die der
Compositen 1/10, also beide zusammen fast 1/7 sämmtlicher Pflan-
zenarten umfassen.

Ich muß mich hier damit begnügen, in der vorliegenden Skitze
die Hauptgesichtspuncte hervorgehoben zu haben, welche beim gegen-
wärtigen Stande unserer Wissenschaft die Wendepuncte der morpho-
logischen Betrachtung ausmachen. Daß sich hier im Einzelnen noch
zahllose Fragen und Betrachtungen aufdrängen, wird jedem Denken-
den einleuchten. Demjenigen, der noch nicht sich gewöhnt hat durch
die äußere Erscheinungsweise hindurch auf den wesentlichen innern
Zusammenhang der Gestaltentwicklungen zu blicken, wird es freilich
sehr paradox vorkommen, wenn wir ihm sagen, daß die kugelförmige
gerippte fleischige Masse eines Cactus mit seinen prachtvollen Blü-
then eigentlich nichts ist als ein tropischer Stachelbeerstrauch,
daß die oft 30 Fuß hohen Palmen-ähnlichen Stämme der Dracä-
nen
mit mächtigen Büscheln großer Lilienblumen durchaus demsel-
ben Formen- und Entwicklungskreise angehören, wie unser unschein-
barer Gartenspargel, oder daß unsere an Dorfwegen überall die
Ränder schmückende, kriechende Käsepappel oder wilde Malve
mit den 6000 Jahre alten Riesenstämmen des Baobab auf der
africanischen Westküste bei Weitem näher verwandt sey, als mit dem
neben ihr vegetirenden wilden Mohn, und gleichwohl ist dies Alles
unzweifelhaft wahr. Denn um noch einmal auf das oben vorge-
führte Princip zurückzukommen, bei den organischen Wesen entschei-
det nicht die Erscheinung des Gewordenen, sondern das Gesetz des
Werdens über gleich und ungleich, ähnlich und unähnlich und die
Idee der Entwicklungsgeschichte ist der allein befruchtende Gedanke
in der wissenschaftlichen Betrachtung des Lebendigen und bestimmt
den Werth der Disciplinen; deshalb steht auch die Pflanzenphysio-
logie höher als die systematische Botanik, die vergleichende Anato-
mie höher als die beschreibende Zoologie und die Geschichte höher
als die Statistik.


300 Pflanzenfamilien die Familie der Gräſer allein 1/20, die der
Compoſiten 1/10, alſo beide zuſammen faſt 1/7 ſämmtlicher Pflan-
zenarten umfaſſen.

Ich muß mich hier damit begnügen, in der vorliegenden Skitze
die Hauptgeſichtspuncte hervorgehoben zu haben, welche beim gegen-
wärtigen Stande unſerer Wiſſenſchaft die Wendepuncte der morpho-
logiſchen Betrachtung ausmachen. Daß ſich hier im Einzelnen noch
zahlloſe Fragen und Betrachtungen aufdrängen, wird jedem Denken-
den einleuchten. Demjenigen, der noch nicht ſich gewöhnt hat durch
die äußere Erſcheinungsweiſe hindurch auf den weſentlichen innern
Zuſammenhang der Geſtaltentwicklungen zu blicken, wird es freilich
ſehr paradox vorkommen, wenn wir ihm ſagen, daß die kugelförmige
gerippte fleiſchige Maſſe eines Cactus mit ſeinen prachtvollen Blü-
then eigentlich nichts iſt als ein tropiſcher Stachelbeerſtrauch,
daß die oft 30 Fuß hohen Palmen-ähnlichen Stämme der Dracä-
nen
mit mächtigen Büſcheln großer Lilienblumen durchaus demſel-
ben Formen- und Entwicklungskreiſe angehören, wie unſer unſchein-
barer Gartenſpargel, oder daß unſere an Dorfwegen überall die
Ränder ſchmückende, kriechende Käſepappel oder wilde Malve
mit den 6000 Jahre alten Rieſenſtämmen des Baobab auf der
africaniſchen Weſtküſte bei Weitem näher verwandt ſey, als mit dem
neben ihr vegetirenden wilden Mohn, und gleichwohl iſt dies Alles
unzweifelhaft wahr. Denn um noch einmal auf das oben vorge-
führte Princip zurückzukommen, bei den organiſchen Weſen entſchei-
det nicht die Erſcheinung des Gewordenen, ſondern das Geſetz des
Werdens über gleich und ungleich, ähnlich und unähnlich und die
Idee der Entwicklungsgeſchichte iſt der allein befruchtende Gedanke
in der wiſſenſchaftlichen Betrachtung des Lebendigen und beſtimmt
den Werth der Diſciplinen; deshalb ſteht auch die Pflanzenphyſio-
logie höher als die ſyſtematiſche Botanik, die vergleichende Anato-
mie höher als die beſchreibende Zoologie und die Geſchichte höher
als die Statiſtik.


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[100/0116] 300 Pflanzenfamilien die Familie der Gräſer allein 1/20, die der Compoſiten 1/10, alſo beide zuſammen faſt 1/7 ſämmtlicher Pflan- zenarten umfaſſen. Ich muß mich hier damit begnügen, in der vorliegenden Skitze die Hauptgeſichtspuncte hervorgehoben zu haben, welche beim gegen- wärtigen Stande unſerer Wiſſenſchaft die Wendepuncte der morpho- logiſchen Betrachtung ausmachen. Daß ſich hier im Einzelnen noch zahlloſe Fragen und Betrachtungen aufdrängen, wird jedem Denken- den einleuchten. Demjenigen, der noch nicht ſich gewöhnt hat durch die äußere Erſcheinungsweiſe hindurch auf den weſentlichen innern Zuſammenhang der Geſtaltentwicklungen zu blicken, wird es freilich ſehr paradox vorkommen, wenn wir ihm ſagen, daß die kugelförmige gerippte fleiſchige Maſſe eines Cactus mit ſeinen prachtvollen Blü- then eigentlich nichts iſt als ein tropiſcher Stachelbeerſtrauch, daß die oft 30 Fuß hohen Palmen-ähnlichen Stämme der Dracä- nen mit mächtigen Büſcheln großer Lilienblumen durchaus demſel- ben Formen- und Entwicklungskreiſe angehören, wie unſer unſchein- barer Gartenſpargel, oder daß unſere an Dorfwegen überall die Ränder ſchmückende, kriechende Käſepappel oder wilde Malve mit den 6000 Jahre alten Rieſenſtämmen des Baobab auf der africaniſchen Weſtküſte bei Weitem näher verwandt ſey, als mit dem neben ihr vegetirenden wilden Mohn, und gleichwohl iſt dies Alles unzweifelhaft wahr. Denn um noch einmal auf das oben vorge- führte Princip zurückzukommen, bei den organiſchen Weſen entſchei- det nicht die Erſcheinung des Gewordenen, ſondern das Geſetz des Werdens über gleich und ungleich, ähnlich und unähnlich und die Idee der Entwicklungsgeſchichte iſt der allein befruchtende Gedanke in der wiſſenſchaftlichen Betrachtung des Lebendigen und beſtimmt den Werth der Diſciplinen; deshalb ſteht auch die Pflanzenphyſio- logie höher als die ſyſtematiſche Botanik, die vergleichende Anato- mie höher als die beſchreibende Zoologie und die Geſchichte höher als die Statiſtik.

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/116>, abgerufen am 25.04.2024.