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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Bedeutung der Lust- und Schmerzgefühle.
von Förderung und Schaden erwache, daß im ganzen die Zunahme an Kraft und Leben
uns angenehm, die Abnahme unangenehm berühre, daß die Lust als Wegweiser des
Lebens, der Schmerz als Warner vor Gefahr uns gegeben sei. "Im Gefühl nimmt die
Seele das Maß der Übereinstimmung oder des Streites zwischen den Wirkungen der
Reize und den Bedingungen des Lebens wahr" (Lotze). Eine Welt, in welcher über-
wiegend und regelmäßig das, was das Leben zerstört, Lust bereitete, in der Schmerz
entstünde durch das, was das Leben fördert, müßte sich rasch zu Grunde richten. Die
positiven und negativen Gefühle dienen als elementarer Steuerungsapparat in dem
ewigen Kampf der Selbsterhaltung und Erneuerung des Menschengeschlechts. Nur aus
dem positiven und negativen Empfinden kann das richtige sich Bestimmen und Handeln
hervorgehen.

Man kann hiegegen scheinbar nun mancherlei einwenden: bestimmte Arten über-
mäßiger Lust können leicht Schmerz, Krankheit und Tod bringen; alle Erziehung des
Menschen beruht auf der augenblicklichen Lustvermeidung; nichts muß der Jugend mehr
eingeprägt werden als: lerne Schmerz ertragen und auf Genuß verzichten; das Gift
kann zuerst Lust bereiten, nachher töten. Es ist auf solche Einwürfe zu antworten:
schon der einzelne Mensch ist ein unendlich kompliziertes Wesen, in welchem zahllose
Nervenzellen in jedem Augenblick positiv und negativ angeregt sein können, in welchem
aber jede dauernde Schmerzvermeidung und Lustbereitung auf einem harmonischen Gleich-
gewicht aller Nervenzellen beruht. Dieses Gleichgewicht kann nur erreicht werden durch
Erziehung und Lebenserfahrung. Im Kinde, beim Unerfahrenen, beim Menschen ohne
Selbstbeherrschung, bei dem mit ungesunder Gefühlsentwickelung kommen einzelne Gefühle
zeitweise zu einer falschen Herrschaft über die anderen. Ebenso lernt der Mensch nur
langsam die Einfügung und Eingewöhnung in die Gesellschaft; er sieht nicht sofort
ein, daß ihm diese momentane Lustverluste, aber dauernde Glücksgewinne bringe. Die
Gefühle des Menschen sind in steter Entwickelung, die höheren erlangen erst nach und
nach das Übergewicht. Die einzelnen und die Völker haben zunächst die Gefühls-
ausbildung, welche ihrem bisherigen Zustand, ihren bisherigen Lebensbedingungen
entsprechen. Werden sie in andere versetzt, so reagieren ihre Gefühle doch zunächst noch
in alter Weise, können sich erst langsam den anderen Zuständen anpassen. Aus allen
diesen Gründen müssen einzelne Gefühle und zumal solche von anormaler Entwickelung
immer zeitweise den Menschen irreführen, der nicht verständig genug ist, die Zusammen-
hänge zu übersehen, der nicht durch sociale Zucht und Erziehung, durch Umbildung und
Anpassung auf den rechten Weg geführt wird. Die Gefühle sind nicht blinde, sondern
vom Intellekt zu regulierende Wegzeiger. Der Mensch muß erst lernen, daß Arbeit und
Zucht, wenn im ersten Stadium auch unbequem, auf die Dauer glücklich mache, daß die
verschiedenen Gefühle einen verschiedenen Rang haben, daß die elementarsten sinnlichen
Gefühle zwar die stärksten seien, aber auch die kürzesten Freuden geben, daß sie ein
Übermaß der Reize so wenig ertragen wie Unterdrückung, daß hier die regulierte mittlere
Reizung allein das Leben fördere, daß schon die zu häufige Wiederholung schade, daß
mehr und mehr für den Kulturmenschen das dauernde Glück nur durch die Ausbildung
und Befriedigung der höheren Gefühle erreichbar sei.

Die Lustgefühle des Essens und der Begattung sind die stärksten, elementarsten;
durch sie wird es bewirkt, daß das Individuum und die Gattung sich erhält. Je
niedriger die Kultur steht, desto mehr stehen sie im Vordergrund, beherrschen überwiegend
oder gar allein die Menschen. Aber auch der rohe Mensch lernt nach und nach daneben
die Freuden kennen, die sich an die höheren Sinne des Auges und des Ohres knüpfen.
Es entstehen die ästhetischen Gefühle, das Wohlgefallen an der Harmonie der Töne und
der Farben, die Gefühle des Rhythmus, des Taktes, der Symmetrie. Aus ihnen ent-
wickeln sich die intellektuellen Gefühle, die Freude an der Lösung jedes praktischen oder
theoretischen Problems, am Begreifen und Verstehen irgend einer Erscheinung. Ebenso
entstehen aber mit dem Gattungsleben und mit der eigenen Thätigkeit die moralischen
Gefühle. Der Mensch kann nicht bloß essen und lieben, er muß seine Zeit und seine
Seele mit anderem erfüllen. Er nimmt gewahr, daß unterhaltende Geselligkeit, glück-

Die Bedeutung der Luſt- und Schmerzgefühle.
von Förderung und Schaden erwache, daß im ganzen die Zunahme an Kraft und Leben
uns angenehm, die Abnahme unangenehm berühre, daß die Luſt als Wegweiſer des
Lebens, der Schmerz als Warner vor Gefahr uns gegeben ſei. „Im Gefühl nimmt die
Seele das Maß der Übereinſtimmung oder des Streites zwiſchen den Wirkungen der
Reize und den Bedingungen des Lebens wahr“ (Lotze). Eine Welt, in welcher über-
wiegend und regelmäßig das, was das Leben zerſtört, Luſt bereitete, in der Schmerz
entſtünde durch das, was das Leben fördert, müßte ſich raſch zu Grunde richten. Die
poſitiven und negativen Gefühle dienen als elementarer Steuerungsapparat in dem
ewigen Kampf der Selbſterhaltung und Erneuerung des Menſchengeſchlechts. Nur aus
dem poſitiven und negativen Empfinden kann das richtige ſich Beſtimmen und Handeln
hervorgehen.

Man kann hiegegen ſcheinbar nun mancherlei einwenden: beſtimmte Arten über-
mäßiger Luſt können leicht Schmerz, Krankheit und Tod bringen; alle Erziehung des
Menſchen beruht auf der augenblicklichen Luſtvermeidung; nichts muß der Jugend mehr
eingeprägt werden als: lerne Schmerz ertragen und auf Genuß verzichten; das Gift
kann zuerſt Luſt bereiten, nachher töten. Es iſt auf ſolche Einwürfe zu antworten:
ſchon der einzelne Menſch iſt ein unendlich kompliziertes Weſen, in welchem zahlloſe
Nervenzellen in jedem Augenblick poſitiv und negativ angeregt ſein können, in welchem
aber jede dauernde Schmerzvermeidung und Luſtbereitung auf einem harmoniſchen Gleich-
gewicht aller Nervenzellen beruht. Dieſes Gleichgewicht kann nur erreicht werden durch
Erziehung und Lebenserfahrung. Im Kinde, beim Unerfahrenen, beim Menſchen ohne
Selbſtbeherrſchung, bei dem mit ungeſunder Gefühlsentwickelung kommen einzelne Gefühle
zeitweiſe zu einer falſchen Herrſchaft über die anderen. Ebenſo lernt der Menſch nur
langſam die Einfügung und Eingewöhnung in die Geſellſchaft; er ſieht nicht ſofort
ein, daß ihm dieſe momentane Luſtverluſte, aber dauernde Glücksgewinne bringe. Die
Gefühle des Menſchen ſind in ſteter Entwickelung, die höheren erlangen erſt nach und
nach das Übergewicht. Die einzelnen und die Völker haben zunächſt die Gefühls-
ausbildung, welche ihrem bisherigen Zuſtand, ihren bisherigen Lebensbedingungen
entſprechen. Werden ſie in andere verſetzt, ſo reagieren ihre Gefühle doch zunächſt noch
in alter Weiſe, können ſich erſt langſam den anderen Zuſtänden anpaſſen. Aus allen
dieſen Gründen müſſen einzelne Gefühle und zumal ſolche von anormaler Entwickelung
immer zeitweiſe den Menſchen irreführen, der nicht verſtändig genug iſt, die Zuſammen-
hänge zu überſehen, der nicht durch ſociale Zucht und Erziehung, durch Umbildung und
Anpaſſung auf den rechten Weg geführt wird. Die Gefühle ſind nicht blinde, ſondern
vom Intellekt zu regulierende Wegzeiger. Der Menſch muß erſt lernen, daß Arbeit und
Zucht, wenn im erſten Stadium auch unbequem, auf die Dauer glücklich mache, daß die
verſchiedenen Gefühle einen verſchiedenen Rang haben, daß die elementarſten ſinnlichen
Gefühle zwar die ſtärkſten ſeien, aber auch die kürzeſten Freuden geben, daß ſie ein
Übermaß der Reize ſo wenig ertragen wie Unterdrückung, daß hier die regulierte mittlere
Reizung allein das Leben fördere, daß ſchon die zu häufige Wiederholung ſchade, daß
mehr und mehr für den Kulturmenſchen das dauernde Glück nur durch die Ausbildung
und Befriedigung der höheren Gefühle erreichbar ſei.

Die Luſtgefühle des Eſſens und der Begattung ſind die ſtärkſten, elementarſten;
durch ſie wird es bewirkt, daß das Individuum und die Gattung ſich erhält. Je
niedriger die Kultur ſteht, deſto mehr ſtehen ſie im Vordergrund, beherrſchen überwiegend
oder gar allein die Menſchen. Aber auch der rohe Menſch lernt nach und nach daneben
die Freuden kennen, die ſich an die höheren Sinne des Auges und des Ohres knüpfen.
Es entſtehen die äſthetiſchen Gefühle, das Wohlgefallen an der Harmonie der Töne und
der Farben, die Gefühle des Rhythmus, des Taktes, der Symmetrie. Aus ihnen ent-
wickeln ſich die intellektuellen Gefühle, die Freude an der Löſung jedes praktiſchen oder
theoretiſchen Problems, am Begreifen und Verſtehen irgend einer Erſcheinung. Ebenſo
entſtehen aber mit dem Gattungsleben und mit der eigenen Thätigkeit die moraliſchen
Gefühle. Der Menſch kann nicht bloß eſſen und lieben, er muß ſeine Zeit und ſeine
Seele mit anderem erfüllen. Er nimmt gewahr, daß unterhaltende Geſelligkeit, glück-

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[21/0037] Die Bedeutung der Luſt- und Schmerzgefühle. von Förderung und Schaden erwache, daß im ganzen die Zunahme an Kraft und Leben uns angenehm, die Abnahme unangenehm berühre, daß die Luſt als Wegweiſer des Lebens, der Schmerz als Warner vor Gefahr uns gegeben ſei. „Im Gefühl nimmt die Seele das Maß der Übereinſtimmung oder des Streites zwiſchen den Wirkungen der Reize und den Bedingungen des Lebens wahr“ (Lotze). Eine Welt, in welcher über- wiegend und regelmäßig das, was das Leben zerſtört, Luſt bereitete, in der Schmerz entſtünde durch das, was das Leben fördert, müßte ſich raſch zu Grunde richten. Die poſitiven und negativen Gefühle dienen als elementarer Steuerungsapparat in dem ewigen Kampf der Selbſterhaltung und Erneuerung des Menſchengeſchlechts. Nur aus dem poſitiven und negativen Empfinden kann das richtige ſich Beſtimmen und Handeln hervorgehen. Man kann hiegegen ſcheinbar nun mancherlei einwenden: beſtimmte Arten über- mäßiger Luſt können leicht Schmerz, Krankheit und Tod bringen; alle Erziehung des Menſchen beruht auf der augenblicklichen Luſtvermeidung; nichts muß der Jugend mehr eingeprägt werden als: lerne Schmerz ertragen und auf Genuß verzichten; das Gift kann zuerſt Luſt bereiten, nachher töten. Es iſt auf ſolche Einwürfe zu antworten: ſchon der einzelne Menſch iſt ein unendlich kompliziertes Weſen, in welchem zahlloſe Nervenzellen in jedem Augenblick poſitiv und negativ angeregt ſein können, in welchem aber jede dauernde Schmerzvermeidung und Luſtbereitung auf einem harmoniſchen Gleich- gewicht aller Nervenzellen beruht. Dieſes Gleichgewicht kann nur erreicht werden durch Erziehung und Lebenserfahrung. Im Kinde, beim Unerfahrenen, beim Menſchen ohne Selbſtbeherrſchung, bei dem mit ungeſunder Gefühlsentwickelung kommen einzelne Gefühle zeitweiſe zu einer falſchen Herrſchaft über die anderen. Ebenſo lernt der Menſch nur langſam die Einfügung und Eingewöhnung in die Geſellſchaft; er ſieht nicht ſofort ein, daß ihm dieſe momentane Luſtverluſte, aber dauernde Glücksgewinne bringe. Die Gefühle des Menſchen ſind in ſteter Entwickelung, die höheren erlangen erſt nach und nach das Übergewicht. Die einzelnen und die Völker haben zunächſt die Gefühls- ausbildung, welche ihrem bisherigen Zuſtand, ihren bisherigen Lebensbedingungen entſprechen. Werden ſie in andere verſetzt, ſo reagieren ihre Gefühle doch zunächſt noch in alter Weiſe, können ſich erſt langſam den anderen Zuſtänden anpaſſen. Aus allen dieſen Gründen müſſen einzelne Gefühle und zumal ſolche von anormaler Entwickelung immer zeitweiſe den Menſchen irreführen, der nicht verſtändig genug iſt, die Zuſammen- hänge zu überſehen, der nicht durch ſociale Zucht und Erziehung, durch Umbildung und Anpaſſung auf den rechten Weg geführt wird. Die Gefühle ſind nicht blinde, ſondern vom Intellekt zu regulierende Wegzeiger. Der Menſch muß erſt lernen, daß Arbeit und Zucht, wenn im erſten Stadium auch unbequem, auf die Dauer glücklich mache, daß die verſchiedenen Gefühle einen verſchiedenen Rang haben, daß die elementarſten ſinnlichen Gefühle zwar die ſtärkſten ſeien, aber auch die kürzeſten Freuden geben, daß ſie ein Übermaß der Reize ſo wenig ertragen wie Unterdrückung, daß hier die regulierte mittlere Reizung allein das Leben fördere, daß ſchon die zu häufige Wiederholung ſchade, daß mehr und mehr für den Kulturmenſchen das dauernde Glück nur durch die Ausbildung und Befriedigung der höheren Gefühle erreichbar ſei. Die Luſtgefühle des Eſſens und der Begattung ſind die ſtärkſten, elementarſten; durch ſie wird es bewirkt, daß das Individuum und die Gattung ſich erhält. Je niedriger die Kultur ſteht, deſto mehr ſtehen ſie im Vordergrund, beherrſchen überwiegend oder gar allein die Menſchen. Aber auch der rohe Menſch lernt nach und nach daneben die Freuden kennen, die ſich an die höheren Sinne des Auges und des Ohres knüpfen. Es entſtehen die äſthetiſchen Gefühle, das Wohlgefallen an der Harmonie der Töne und der Farben, die Gefühle des Rhythmus, des Taktes, der Symmetrie. Aus ihnen ent- wickeln ſich die intellektuellen Gefühle, die Freude an der Löſung jedes praktiſchen oder theoretiſchen Problems, am Begreifen und Verſtehen irgend einer Erſcheinung. Ebenſo entſtehen aber mit dem Gattungsleben und mit der eigenen Thätigkeit die moraliſchen Gefühle. Der Menſch kann nicht bloß eſſen und lieben, er muß ſeine Zeit und ſeine Seele mit anderem erfüllen. Er nimmt gewahr, daß unterhaltende Geſelligkeit, glück-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/37>, abgerufen am 23.04.2024.