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Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870.

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Volkscharakter und Kulturverhältnisse.
Nachbarstämme. Es ist vor Allem ein tüchtiger, gesunder,
wohlhabender Bauernstand, der zähe festhält am Alten
in Sitte und Tracht, in Lebensanschauung und wirth-
schaftlichem Betriebe.

Wohl dringt auch das Neue da und dort ein,
aber eher schafft es sich ganz neue Formen, als daß
es zunächst bestehende Verhältnisse umwandelt. Der
Bauer ist reicher geworden mit den steigenden Getreide-
preisen; aber wenn er mehr kauft, so sind es mehr
Industrie- als Handwerksprodukte. Die Großindustrie
fängt an die Naturschätze, die Wasserkräfte, den billigen
Arbeitslohn in Baiern zu benutzen, sie dehnt sich sogar
in rein landwirthschaftlichen Distrikten aus. Daran ist
theilweise die den Fabriken günstigere Gesetzgebung schuld;
aber ebenso sehr wirken die allgemeinen Verhältnisse.
Wo vorher jede lebendige, industrielle Thätigkeit fehlt,
wo heute erst die Geschäfte neu eingerichtet werden, da
werden sie viel mehr nach modernster Art mit umfassen-
derem Betriebe angelegt, als wo sich der neue Aufschwung
an altes, gewerbliches Leben anschließt. Auch in der
preußischen Rheinprovinz ist heute noch Manches in
der Hand kleiner Geschäfte, wofür die später entwickelten
altpreußischen Provinzen nur große Geschäfte kennen.

Die landläufige Auffassung schiebt die Schuld der
langsamen Entwickelung Baierns vornehmlich auf die
bisherige Gesetzgebung. Und es ist wahr, die Nieder-
lassungs-, Gemeinde- und Verehelichungsgesetzgebung
war engherzig; sie hat wesentlich dazu beigetragen, eine
wenig dichte Bevölkerung zu erhalten (Oberbaiern 2452
Menschen auf die # Meile, ganz Barien 3327 im Jahre

Volkscharakter und Kulturverhältniſſe.
Nachbarſtämme. Es iſt vor Allem ein tüchtiger, geſunder,
wohlhabender Bauernſtand, der zähe feſthält am Alten
in Sitte und Tracht, in Lebensanſchauung und wirth-
ſchaftlichem Betriebe.

Wohl dringt auch das Neue da und dort ein,
aber eher ſchafft es ſich ganz neue Formen, als daß
es zunächſt beſtehende Verhältniſſe umwandelt. Der
Bauer iſt reicher geworden mit den ſteigenden Getreide-
preiſen; aber wenn er mehr kauft, ſo ſind es mehr
Induſtrie- als Handwerksprodukte. Die Großinduſtrie
fängt an die Naturſchätze, die Waſſerkräfte, den billigen
Arbeitslohn in Baiern zu benutzen, ſie dehnt ſich ſogar
in rein landwirthſchaftlichen Diſtrikten aus. Daran iſt
theilweiſe die den Fabriken günſtigere Geſetzgebung ſchuld;
aber ebenſo ſehr wirken die allgemeinen Verhältniſſe.
Wo vorher jede lebendige, induſtrielle Thätigkeit fehlt,
wo heute erſt die Geſchäfte neu eingerichtet werden, da
werden ſie viel mehr nach modernſter Art mit umfaſſen-
derem Betriebe angelegt, als wo ſich der neue Aufſchwung
an altes, gewerbliches Leben anſchließt. Auch in der
preußiſchen Rheinprovinz iſt heute noch Manches in
der Hand kleiner Geſchäfte, wofür die ſpäter entwickelten
altpreußiſchen Provinzen nur große Geſchäfte kennen.

Die landläufige Auffaſſung ſchiebt die Schuld der
langſamen Entwickelung Baierns vornehmlich auf die
bisherige Geſetzgebung. Und es iſt wahr, die Nieder-
laſſungs-, Gemeinde- und Verehelichungsgeſetzgebung
war engherzig; ſie hat weſentlich dazu beigetragen, eine
wenig dichte Bevölkerung zu erhalten (Oberbaiern 2452
Menſchen auf die □ Meile, ganz Barien 3327 im Jahre

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[119/0141] Volkscharakter und Kulturverhältniſſe. Nachbarſtämme. Es iſt vor Allem ein tüchtiger, geſunder, wohlhabender Bauernſtand, der zähe feſthält am Alten in Sitte und Tracht, in Lebensanſchauung und wirth- ſchaftlichem Betriebe. Wohl dringt auch das Neue da und dort ein, aber eher ſchafft es ſich ganz neue Formen, als daß es zunächſt beſtehende Verhältniſſe umwandelt. Der Bauer iſt reicher geworden mit den ſteigenden Getreide- preiſen; aber wenn er mehr kauft, ſo ſind es mehr Induſtrie- als Handwerksprodukte. Die Großinduſtrie fängt an die Naturſchätze, die Waſſerkräfte, den billigen Arbeitslohn in Baiern zu benutzen, ſie dehnt ſich ſogar in rein landwirthſchaftlichen Diſtrikten aus. Daran iſt theilweiſe die den Fabriken günſtigere Geſetzgebung ſchuld; aber ebenſo ſehr wirken die allgemeinen Verhältniſſe. Wo vorher jede lebendige, induſtrielle Thätigkeit fehlt, wo heute erſt die Geſchäfte neu eingerichtet werden, da werden ſie viel mehr nach modernſter Art mit umfaſſen- derem Betriebe angelegt, als wo ſich der neue Aufſchwung an altes, gewerbliches Leben anſchließt. Auch in der preußiſchen Rheinprovinz iſt heute noch Manches in der Hand kleiner Geſchäfte, wofür die ſpäter entwickelten altpreußiſchen Provinzen nur große Geſchäfte kennen. Die landläufige Auffaſſung ſchiebt die Schuld der langſamen Entwickelung Baierns vornehmlich auf die bisherige Geſetzgebung. Und es iſt wahr, die Nieder- laſſungs-, Gemeinde- und Verehelichungsgeſetzgebung war engherzig; ſie hat weſentlich dazu beigetragen, eine wenig dichte Bevölkerung zu erhalten (Oberbaiern 2452 Menſchen auf die □ Meile, ganz Barien 3327 im Jahre

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_kleingewerbe_1870/141>, abgerufen am 23.04.2024.