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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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tatsächlich und vermöge seiner politisch-rechtlichen Ordnung ein ganz
überwiegend lokaler. Und die zunehmenden wirtschaftlichen Ge-
meinde- und Staatseinrichtungen rückten erst später in den Mittel-
punkt der Betrachtung. Die großen Reiche des Altertums, selbst das
römische, blieben Bündnisse von Stadtbezirken oder Militärdiktaturen
über eine größere Zahl solcher. Und das ganze Mittelalter kam über
eine Mark-, Dorf-, Stadt- und Kreiswirtschaft, im Sinne einer wirt-
schaftlichen Zusammenfassung oder Verbindung einer Anzahl zusam-
menwohnender, nachbarlich verbundener und verkehrender Haushalte,
nicht wesentlich hinaus, auch wo Sprache, Militär-, Kirchen- und poli-
tische Verfassung schon etwas größere Gemeinwesen geschaffen, der
Handel etwas weiterreichende Verbindungen geknüpft hatte.

Erst die seit dem Ende des Mittelalters sich bildenden, in der Haupt-
sache heute vollendeten großen Nationalstaaten haben in sich und mit
ihrer Bildung das entstehen sehen, was wir Volkswirtschaft nennen;
wie die modernen Sprachen und Literaturen, die modernen Heeres-
und Finanz-, die Verwaltungs- und Verfassungsorganisationen die
Staatsbildung als Ursache und Wirkung begleiteten, so läßt sich Ähn-
liches von der Volkswirtschaft sagen. Es ist die wirtschaftliche Seite
der Entstehung dieser großen gesellschaftlichen Körper, die man meint,
wenn man von der Volkswirtschaft, der political economy, der eco-
nomie politique redet. Der Genius der Sprache hat hier wie so oft
das Richtige besser getroffen, als es Gelehrtenklüge[l]ei tut, wo sie neue
Begriffe schaffen will. Indem er das Wort Volk der Wirtschaft vor-
setzte, schuf er mit der "Volkswirtschaft" einen Sammelbegriff, der
aber zugleich zum Individualbegriff wurde; indem er die Einzelwirt-
schaften eines Volkes zusammenfaßt, drückt er zugleich aus, daß diese
in einer Verbindung stehen, welche man so gut wie die Familie, die
Gemeinde, den Staat als ein reales Ganzes begreifen kann und muß.
Das Wort "Volk" ist dabei gebraucht einerseits als der Inbegriff der
Vorstellungen über das, was die Glieder eines populus, einer natio eint,
andererseits als der Stellvertreter für alle Arten innerer psychisch-
moralischer Verbindung von Menschen. Die Volkswirtschaft will von
den wirtschaftlichen Erscheinungen die gesellschaftliche Seite aus-
sondern und für sich in Beschlag nehmen, die technische und haus-
wirtschaftliche Seite derselben Erscheinungen in den Hintergrund rük-
kend; und ebenso will das Wort die gesellschaftlichen und politischen
Erscheinungen in zwei Teile zerlegen und nur die wirtschaftlicher
Natur für sich in Anspruch nehmen. Man hat in Deutschland hierfür
zuerst den Begriff Staatswirtschaft gebraucht; es war sehr richtig, ihn
durch das Wort Volkswirtschaft zu ersetzen, da jener den schiefen
Nebensinn erwecken konnte, als ob die Staatsgewalt alle wirtschaft-
lichen Prozesse zu leiten hätte. Die aus dem Wort Volkswirtschaft her-

tatsächlich und vermöge seiner politisch-rechtlichen Ordnung ein ganz
überwiegend lokaler. Und die zunehmenden wirtschaftlichen Ge-
meinde- und Staatseinrichtungen rückten erst später in den Mittel-
punkt der Betrachtung. Die großen Reiche des Altertums, selbst das
römische, blieben Bündnisse von Stadtbezirken oder Militärdiktaturen
über eine größere Zahl solcher. Und das ganze Mittelalter kam über
eine Mark-, Dorf-, Stadt- und Kreiswirtschaft, im Sinne einer wirt-
schaftlichen Zusammenfassung oder Verbindung einer Anzahl zusam-
menwohnender, nachbarlich verbundener und verkehrender Haushalte,
nicht wesentlich hinaus, auch wo Sprache, Militär-, Kirchen- und poli-
tische Verfassung schon etwas größere Gemeinwesen geschaffen, der
Handel etwas weiterreichende Verbindungen geknüpft hatte.

Erst die seit dem Ende des Mittelalters sich bildenden, in der Haupt-
sache heute vollendeten großen Nationalstaaten haben in sich und mit
ihrer Bildung das entstehen sehen, was wir Volkswirtschaft nennen;
wie die modernen Sprachen und Literaturen, die modernen Heeres-
und Finanz-, die Verwaltungs- und Verfassungsorganisationen die
Staatsbildung als Ursache und Wirkung begleiteten, so läßt sich Ähn-
liches von der Volkswirtschaft sagen. Es ist die wirtschaftliche Seite
der Entstehung dieser großen gesellschaftlichen Körper, die man meint,
wenn man von der Volkswirtschaft, der political economy, der éco-
nomie politique redet. Der Genius der Sprache hat hier wie so oft
das Richtige besser getroffen, als es Gelehrtenklüge[l]ei tut, wo sie neue
Begriffe schaffen will. Indem er das Wort Volk der Wirtschaft vor-
setzte, schuf er mit der „Volkswirtschaft“ einen Sammelbegriff, der
aber zugleich zum Individualbegriff wurde; indem er die Einzelwirt-
schaften eines Volkes zusammenfaßt, drückt er zugleich aus, daß diese
in einer Verbindung stehen, welche man so gut wie die Familie, die
Gemeinde, den Staat als ein reales Ganzes begreifen kann und muß.
Das Wort „Volk“ ist dabei gebraucht einerseits als der Inbegriff der
Vorstellungen über das, was die Glieder eines populus, einer natio eint,
andererseits als der Stellvertreter für alle Arten innerer psychisch-
moralischer Verbindung von Menschen. Die Volkswirtschaft will von
den wirtschaftlichen Erscheinungen die gesellschaftliche Seite aus-
sondern und für sich in Beschlag nehmen, die technische und haus-
wirtschaftliche Seite derselben Erscheinungen in den Hintergrund rük-
kend; und ebenso will das Wort die gesellschaftlichen und politischen
Erscheinungen in zwei Teile zerlegen und nur die wirtschaftlicher
Natur für sich in Anspruch nehmen. Man hat in Deutschland hierfür
zuerst den Begriff Staatswirtschaft gebraucht; es war sehr richtig, ihn
durch das Wort Volkswirtschaft zu ersetzen, da jener den schiefen
Nebensinn erwecken konnte, als ob die Staatsgewalt alle wirtschaft-
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[10/0014] tatsächlich und vermöge seiner politisch-rechtlichen Ordnung ein ganz überwiegend lokaler. Und die zunehmenden wirtschaftlichen Ge- meinde- und Staatseinrichtungen rückten erst später in den Mittel- punkt der Betrachtung. Die großen Reiche des Altertums, selbst das römische, blieben Bündnisse von Stadtbezirken oder Militärdiktaturen über eine größere Zahl solcher. Und das ganze Mittelalter kam über eine Mark-, Dorf-, Stadt- und Kreiswirtschaft, im Sinne einer wirt- schaftlichen Zusammenfassung oder Verbindung einer Anzahl zusam- menwohnender, nachbarlich verbundener und verkehrender Haushalte, nicht wesentlich hinaus, auch wo Sprache, Militär-, Kirchen- und poli- tische Verfassung schon etwas größere Gemeinwesen geschaffen, der Handel etwas weiterreichende Verbindungen geknüpft hatte. Erst die seit dem Ende des Mittelalters sich bildenden, in der Haupt- sache heute vollendeten großen Nationalstaaten haben in sich und mit ihrer Bildung das entstehen sehen, was wir Volkswirtschaft nennen; wie die modernen Sprachen und Literaturen, die modernen Heeres- und Finanz-, die Verwaltungs- und Verfassungsorganisationen die Staatsbildung als Ursache und Wirkung begleiteten, so läßt sich Ähn- liches von der Volkswirtschaft sagen. Es ist die wirtschaftliche Seite der Entstehung dieser großen gesellschaftlichen Körper, die man meint, wenn man von der Volkswirtschaft, der political economy, der éco- nomie politique redet. Der Genius der Sprache hat hier wie so oft das Richtige besser getroffen, als es Gelehrtenklügelei tut, wo sie neue Begriffe schaffen will. Indem er das Wort Volk der Wirtschaft vor- setzte, schuf er mit der „Volkswirtschaft“ einen Sammelbegriff, der aber zugleich zum Individualbegriff wurde; indem er die Einzelwirt- schaften eines Volkes zusammenfaßt, drückt er zugleich aus, daß diese in einer Verbindung stehen, welche man so gut wie die Familie, die Gemeinde, den Staat als ein reales Ganzes begreifen kann und muß. Das Wort „Volk“ ist dabei gebraucht einerseits als der Inbegriff der Vorstellungen über das, was die Glieder eines populus, einer natio eint, andererseits als der Stellvertreter für alle Arten innerer psychisch- moralischer Verbindung von Menschen. Die Volkswirtschaft will von den wirtschaftlichen Erscheinungen die gesellschaftliche Seite aus- sondern und für sich in Beschlag nehmen, die technische und haus- wirtschaftliche Seite derselben Erscheinungen in den Hintergrund rük- kend; und ebenso will das Wort die gesellschaftlichen und politischen Erscheinungen in zwei Teile zerlegen und nur die wirtschaftlicher Natur für sich in Anspruch nehmen. Man hat in Deutschland hierfür zuerst den Begriff Staatswirtschaft gebraucht; es war sehr richtig, ihn durch das Wort Volkswirtschaft zu ersetzen, da jener den schiefen Nebensinn erwecken konnte, als ob die Staatsgewalt alle wirtschaft- lichen Prozesse zu leiten hätte. Die aus dem Wort Volkswirtschaft her-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/14>, abgerufen am 28.03.2024.