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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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soziale und wirtschaftliche Politik auf und sind mit ihrem zeit-
weisen Hervortreten, ihrem periodischem Einfluß, ja ihrer Herr-
schaft selbst zu wichtigen Elementen und Verursachungssystemen der
Entwickelung geworden; sie haben um so mehr gewirkt, je mehr sie
verstanden, einerseits in den Dienst großer berechtigter Zeitinter-
essen und Strömungen zu treten und andererseits zugleich die Fort-
schritte der wirklichen, auf Erfahrung gestützten Erkenntnis der volks-
wirtschaftlichen Erscheinungen in sich aufzunehmen.

Die ökonomischen Theorien des Mittelalters haben ihre einheitlichen
Wurzeln im Christentume und in der christlichen Moral, in der Lehre
vom justum pretium und vom Wucher. Die staatswirtschaftlichen Theo-
rien des 16.--18. Jahrhunderts, die man unter dem Namen des Mer-
kantilismus zusammenfaßt, sind überwiegend einer Weltanschauung
entsprungen, die auf die Gedankenwelt des späteren römischen Im-
periums und des römischen Rechtes sich stützte; die absolutistischen
Gedanken von Machiavell, Bodinus, Hobbes, Pufendorf und Christian
Wolf stehen im Zentrum derselben5. Als höchster Zweck erscheint die
moderne Staatsbildung; wie die einzelnen Grundherrschaften, Städte,
Kreise, Territorien einem Herrscher, einem Gesetz, einer Verwaltung
unterworfen werden, so sollen die einzelnen Wirtschaften zu einem
Markte zusammenwachsen, durch Verkehr, Arbeitsteilung und einheit-
liche Geldzirkulation verbunden werden; ein gutes Münzwesen, eine
lebendige Geldzirkulation erscheint als das wichtigste Hilfsmittel hier-
für; Exportindustrien, Kolonien, auswärtiger Handel, Bergbau schaf-
fen Geldüberfluß und reichliche Geldzirkulation; das im Lande be-
findliche Geld soll nicht hinausgelassen werden; die ganze nationale
Volkswirtschaft soll durch Zollbarrieren, die Handel und Industrie in-
direkt beeinflussen und lenken, einheitlich zusammengefaßt werden;
dem Auslande steht man feindlich gegenüber, man kämpft mit ihm
um den Absatz, um die Kolonien, um die Handelsvorherrschaft; das
Volk erscheint als träge Masse, die vom Staatsmanne gelenkt, zum Fort-
schritte veranlaßt werden muß. In diesen Sätzen stecken viele richtige
und manche falsche Beobachtungen und Urteile; hauptsächlich aber
sehen wir in dieser Theorie große praktisch-historisch berechtigte Zeit-
strömungen; auf dem Boden einer einseitigen Weltanschauung und
Staatslehre wurde dem Handeln adäquate Zeitideale vorgehalten.

Die Naturlehre der Volkswirtschaft, wie sie von den Physiokraten und
Adam Smith begründet wurde, ging von naturwissenschaftlichen und
naturrechtlichen Ideen aus; sie betrachtet die Volkswirtschaft unter
dem Bilde eines natürlich harmonisch geordneten Systems individueller,
egoistisch handelnder Kräfte, aus dessen Spiel der theistische Optimis-
mus aber nur günstige Folgen abzuleiten vermochte. Es war eine Theo-
rie, welche die Ideale des Individualismus und Liberalismus predigte,

soziale und wirtschaftliche Politik auf und sind mit ihrem zeit-
weisen Hervortreten, ihrem periodischem Einfluß, ja ihrer Herr-
schaft selbst zu wichtigen Elementen und Verursachungssystemen der
Entwickelung geworden; sie haben um so mehr gewirkt, je mehr sie
verstanden, einerseits in den Dienst großer berechtigter Zeitinter-
essen und Strömungen zu treten und andererseits zugleich die Fort-
schritte der wirklichen, auf Erfahrung gestützten Erkenntnis der volks-
wirtschaftlichen Erscheinungen in sich aufzunehmen.

Die ökonomischen Theorien des Mittelalters haben ihre einheitlichen
Wurzeln im Christentume und in der christlichen Moral, in der Lehre
vom justum pretium und vom Wucher. Die staatswirtschaftlichen Theo-
rien des 16.—18. Jahrhunderts, die man unter dem Namen des Mer-
kantilismus zusammenfaßt, sind überwiegend einer Weltanschauung
entsprungen, die auf die Gedankenwelt des späteren römischen Im-
periums und des römischen Rechtes sich stützte; die absolutistischen
Gedanken von Machiavell, Bodinus, Hobbes, Pufendorf und Christian
Wolf stehen im Zentrum derselben5. Als höchster Zweck erscheint die
moderne Staatsbildung; wie die einzelnen Grundherrschaften, Städte,
Kreise, Territorien einem Herrscher, einem Gesetz, einer Verwaltung
unterworfen werden, so sollen die einzelnen Wirtschaften zu einem
Markte zusammenwachsen, durch Verkehr, Arbeitsteilung und einheit-
liche Geldzirkulation verbunden werden; ein gutes Münzwesen, eine
lebendige Geldzirkulation erscheint als das wichtigste Hilfsmittel hier-
für; Exportindustrien, Kolonien, auswärtiger Handel, Bergbau schaf-
fen Geldüberfluß und reichliche Geldzirkulation; das im Lande be-
findliche Geld soll nicht hinausgelassen werden; die ganze nationale
Volkswirtschaft soll durch Zollbarrieren, die Handel und Industrie in-
direkt beeinflussen und lenken, einheitlich zusammengefaßt werden;
dem Auslande steht man feindlich gegenüber, man kämpft mit ihm
um den Absatz, um die Kolonien, um die Handelsvorherrschaft; das
Volk erscheint als träge Masse, die vom Staatsmanne gelenkt, zum Fort-
schritte veranlaßt werden muß. In diesen Sätzen stecken viele richtige
und manche falsche Beobachtungen und Urteile; hauptsächlich aber
sehen wir in dieser Theorie große praktisch-historisch berechtigte Zeit-
strömungen; auf dem Boden einer einseitigen Weltanschauung und
Staatslehre wurde dem Handeln adäquate Zeitideale vorgehalten.

Die Naturlehre der Volkswirtschaft, wie sie von den Physiokraten und
Adam Smith begründet wurde, ging von naturwissenschaftlichen und
naturrechtlichen Ideen aus; sie betrachtet die Volkswirtschaft unter
dem Bilde eines natürlich harmonisch geordneten Systems individueller,
egoistisch handelnder Kräfte, aus dessen Spiel der theistische Optimis-
mus aber nur günstige Folgen abzuleiten vermochte. Es war eine Theo-
rie, welche die Ideale des Individualismus und Liberalismus predigte,

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[27/0031] soziale und wirtschaftliche Politik auf und sind mit ihrem zeit- weisen Hervortreten, ihrem periodischem Einfluß, ja ihrer Herr- schaft selbst zu wichtigen Elementen und Verursachungssystemen der Entwickelung geworden; sie haben um so mehr gewirkt, je mehr sie verstanden, einerseits in den Dienst großer berechtigter Zeitinter- essen und Strömungen zu treten und andererseits zugleich die Fort- schritte der wirklichen, auf Erfahrung gestützten Erkenntnis der volks- wirtschaftlichen Erscheinungen in sich aufzunehmen. Die ökonomischen Theorien des Mittelalters haben ihre einheitlichen Wurzeln im Christentume und in der christlichen Moral, in der Lehre vom justum pretium und vom Wucher. Die staatswirtschaftlichen Theo- rien des 16.—18. Jahrhunderts, die man unter dem Namen des Mer- kantilismus zusammenfaßt, sind überwiegend einer Weltanschauung entsprungen, die auf die Gedankenwelt des späteren römischen Im- periums und des römischen Rechtes sich stützte; die absolutistischen Gedanken von Machiavell, Bodinus, Hobbes, Pufendorf und Christian Wolf stehen im Zentrum derselben5. Als höchster Zweck erscheint die moderne Staatsbildung; wie die einzelnen Grundherrschaften, Städte, Kreise, Territorien einem Herrscher, einem Gesetz, einer Verwaltung unterworfen werden, so sollen die einzelnen Wirtschaften zu einem Markte zusammenwachsen, durch Verkehr, Arbeitsteilung und einheit- liche Geldzirkulation verbunden werden; ein gutes Münzwesen, eine lebendige Geldzirkulation erscheint als das wichtigste Hilfsmittel hier- für; Exportindustrien, Kolonien, auswärtiger Handel, Bergbau schaf- fen Geldüberfluß und reichliche Geldzirkulation; das im Lande be- findliche Geld soll nicht hinausgelassen werden; die ganze nationale Volkswirtschaft soll durch Zollbarrieren, die Handel und Industrie in- direkt beeinflussen und lenken, einheitlich zusammengefaßt werden; dem Auslande steht man feindlich gegenüber, man kämpft mit ihm um den Absatz, um die Kolonien, um die Handelsvorherrschaft; das Volk erscheint als träge Masse, die vom Staatsmanne gelenkt, zum Fort- schritte veranlaßt werden muß. In diesen Sätzen stecken viele richtige und manche falsche Beobachtungen und Urteile; hauptsächlich aber sehen wir in dieser Theorie große praktisch-historisch berechtigte Zeit- strömungen; auf dem Boden einer einseitigen Weltanschauung und Staatslehre wurde dem Handeln adäquate Zeitideale vorgehalten. Die Naturlehre der Volkswirtschaft, wie sie von den Physiokraten und Adam Smith begründet wurde, ging von naturwissenschaftlichen und naturrechtlichen Ideen aus; sie betrachtet die Volkswirtschaft unter dem Bilde eines natürlich harmonisch geordneten Systems individueller, egoistisch handelnder Kräfte, aus dessen Spiel der theistische Optimis- mus aber nur günstige Folgen abzuleiten vermochte. Es war eine Theo- rie, welche die Ideale des Individualismus und Liberalismus predigte,

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/31>, abgerufen am 29.03.2024.